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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

200–202

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lichtenstein, Michael

Titel/Untertitel:

Von der Mitte der Gottesstadt bis ans Ende der Welt. Psalm 46 und die Kosmologie der Zionstradition.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. 478 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 139. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-7887-2799-4.

Rezensent:

Beate Ego

Die Arbeit von Michael Lichtenstein, eine Dissertation, die bei Bernd Janowski in Tübingen entstand und im Jahre 2013 von der Tübinger Evangelisch-theologischen Fakultät angenommen wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die für Ps 46 spezifische Ausformung der Zionstradition im Kontext der biblischen Überlieferung und des altorientalischen Quellenmaterials zu erschließen und die Stellung und Funktion dieses Psalms im Rahmen der Korach-Psalmen (Ps 42–49) zu klären. Nach der Einleitung (1–27), Übersetzung und Textkritik (28–40) und Textanalyse, die auch Fragen der Literar- und Gattungskritik sowie der Datierung behandelt (41–94), ist der Hauptteil der Arbeit der Motiv-, Traditions- und Religionsgeschichte gewidmet (95–383). In diesem Zusammenhang kontextualisiert L. folgende Motive mit ihren jeweiligen kleineren Komponenten innerhalb der Überlieferung der Hebräischen Bibel und des altorientalischen Quellenmaterials: A) Gott als bergender Lebensraum und als Hilfe in Nöten (V. 2.8.12) (95–118), B) Die Furchtlosigkeit angesichts des Aufruhrs in der Naturwelt (V. 3 f.) (118–173), C) Die kosmische Dimensionierung der Gottesstadt (V. 5 f.) (174–287), D) Beendigung des »Aufruhrs der Völker und Königreiche« (V. 7) (288–324), E) JHWH als universaler und erhabener Friedensstifter (V. 9-11) (325–383). Nach der Redaktionsgeschichte, die Ps 46 in der Korach-Psalmen-Sammlung verortet (384–409), blickt die Rezeptionsgeschichte knapp auf Ps 46 in den Handschriften von Qumran, auf die Überlieferung in der LXX und die Rezeption im Neuen Testament (vgl. Lk 21,25 und Apk 21 f.) (410–419). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung sowie einem Ausblick auf die Verwendung von Ps 46 im christlichen Gottesdienst, in dem L. auf Martin Luthers Auslegung dieses Psalms verweist und auf eine Predigt bezüglich dieses Textes von Eberhard Jüngel (420–433), sowie einer umfangreichen Bibliographie (435–470) und einem Stellenregister (472–478).
L. sieht Ps 46 als literarische Einheit, die in die spätvorexilische Zeit zu datieren und für die ein kultischer Sitz im Leben zu postulieren ist (90 f.) Im Hinblick auf die Textpragmatik arbeitet er heraus, dass der »theologische Aspekt der Erhabenheit JHWHs […] sein anthropologisches Pendant in der Furchtlosigkeit der Wir-Gruppe« findet. Der Text mit der Darstellung der Gottesstadt bietet eine »Anleitung zur Weltwahrnehmung«, welche »die Hilfsbedürftigkeit und zugleich die Festigkeit versinnbildlicht«, die durch die Erfahrung der Hilfe zuteilwird. »Die Erfahrung dieser Hilfe muss sich die ›Wir-Gruppe‹ immer wieder aufs Neue versichern, damit sie zur Überwindung der Furcht kommen kann« (72).
Beim Vergleich mit verwandten Vorstellungszusammenhängen kristallisiert sich, neben einer Vielzahl von einzelnen Bezügen, die hier nicht dargestellt werden können, heraus, dass Ps 48 ein wichtiger Bezugstext für Ps 46 ist, da hier gleich eine ganze Anzahl von Motiven rezipiert werden, die Ps 46 dann aber theologisch weiterentwickelt und vertieft. Während in Ps 48,4 Gott in den Palästen als Schutzburg bekannt ist, ist dieser in Ps 46 »von seinem Wesen her« ein Schutz. Anstelle des Großkönigs (Ps 48,3) erscheint JHWH in Ps 46,11 in seiner universalen Erhabenheit unter den Völkern und auf der Erde. Die Freude dagegen, die sich nach Ps 48,3 als eine Art Eigenschaft der Gottesstadt darstellt, wird in Ps 46 insofern modifiziert, als nun die Stadt selbst »freude-bedürftig« ist. Der Strom ist Symbol der täglich neu geschenkten Präsenz JHWHs. Die Erfahrung des Chaos auf der geschichtlich-sozialen Ebene, wie sie in Ps 48 durch die heranziehenden Könige auftaucht, wird in Ps 46 durch Chaoserfahrungen auf der kosmischen Ebene ergänzt. In Aufnahme einer These von O. Keel situiert L. sowohl Ps 48 als auch Ps 46 im Umfeld der Belagerung Jerusalems durch Sanherib, wobei sie die »Kreise derer gestärkt haben können«, die sich gegen eine Koalition mit Ägypten ausgesprochen haben. Insgesamt kann die Zionstradition als eine »Entwicklung der partikularen, universalen und kosmischen Stadtgott-Konzeption im Zusammenhang der Vorstellung vom Königsgott beschrieben werden« (alle Zitate hier 421 f.). L. möchte Ps 46 abschließend im Kontext des »klassischen Motivbestandes« der Zionstradition sehen. Das Motiv des Chaoskampfes wird zwar nicht explizit genannt, aber es wird durch die Darstellung des Naturchaos »auf die Möglichkeit des Chaos in der Völkerwelt implizit verwiesen und (so) bleibt (es) als potentielle Bedrohung latent vorhanden« (424). Durch den Gottesstrom be­kommt die Stadt kosmologische Bezüge, während das Völkerkampfmotiv mit dem Tosen des Meeres in Verbindung gebracht, aber nicht explizit lokalisiert wird. Das Motiv der Völkerwallfahrt erscheint erst auf der Ebene der Korachpsalmengruppe, da Ps 42–49 als ein Weg von der Gottferne hin zum Zion und schließlich zu einer Transzendierung des Irdischen gelesen werden können. Zudem betont L., dass auch das Zufluchts-, Hilfs- und Glaubensmotiv im Kontext der Zionstheologie zu nennen ist. Die Vorstellung vom Königtum Gottes – als Basismotiv der Zionstradition – wird in Ps 46 sowohl vertikal als auch horizontal und zeitlich entfaltet; Universalität und Partikularität JHWHs verbinden sich hiermit. »Klassische Motive« der Zionstradition, die hier anklingen, sind Chaoskampf, Gottesberg, Gottesstadt und Gottesstrom, Völkerkampf und Völkerwallfahrt, wobei durch die Verbindung zwischen der dargestellten Seinsordnung und dem Glauben der Wir-Gruppe auch eine »Korrelation von Weltbild und Ethos« stattfindet (427; zum Ganzen 425–428).
Es handelt sich um eine sehr fleißige Arbeit, die wichtige Ergebnisse der Forschung zur Jerusalemer Kulttheologie der letzten Jahre zusammenträgt und weiterführt. Die Einbindung in die Forschungsarbeiten zur Zionstheologie und zum biblischen Weltbild (cf. B. Janowski/B. Ego, Das biblische Weltbild [2001], sowie die Arbeiten von F. Hartenstein) ist nicht zu übersehen. L. setzt sich aber auch gelegentlich – wie im Falle der Annahme der Einheitlichkeit des Psalms – von deren Forschungspositionen ab (vgl. insbesondere hier von der Position F. Hartensteins, der in den Versen 9–12 eine nachexilische Fortschreibung sieht) und führt diese im Hinblick auf die Textpragmatik, die Verbindung von Ps 46 mit Ps 48 oder die redaktionelle Einbindung in die Korachpsalmengruppe weiter. Zu begrüßen ist die traditionsgeschichtliche Synthese der verschiedenen literarischen Zeugnisse bezüglich Jerusalems und des Tempels zu einer zusammenhängenden »Zionstradition«. Interessant sind die Hinweise auf Ps 42–49 und die Vorstellung der Völkerwallfahrt, allerdings kommt es hier zu einer gewissen Verschiebung des Begriffes, da es nun nicht mehr um das Motiv als solches geht, sondern die Völkerwallfahrt zu einer textpragmatischen Komponente auf redaktioneller Ebene wird. Zudem fragt man sich, welche Erklärung für die motivgeschichtliche Nachordnung von Ps 46 zu Ps 48 genannt werden kann. In der Auswertung nämlich verortet L. beide Psalmen, trotz ihrer Unterschiede, ja in derselben historischen Situation und bei denselben Trägerkreisen. Auch der Anspruch einer » diachronen Differenzierung der Motive der Zionstradition« (s. hierzu die Einleitung, 22) bleibt merkwürdig offen; nicht erschlossen hat sich mir in diesem Kontext auch, was angesichts der postulierten Diachronizität des Konzepts unter dem Begriff der »klassischen Zionstheologie« (so 423–425) zu verstehen sei. Eine gewisse Engführung bildet schließlich der Ausblick, der auf Martin Luther und Eberhard Jüngel zuläuft. Vor dem Hintergrund des christlich-jüdischen Gesprächs und der Überlegungen zu einer Biblischen Theologie, die dem »doppelten Ausgang« der Hebräischen Bibel Rechnung trägt (vgl. hierzu Klaus Koch, Bernd Janowski u. a.), stellt sich die Frage, warum die jüdische Tradition der Auslegung von Ps 46 und ähnlichen Texten in der rabbinischen Literatur nicht wenigstens ausblicksartig dargestellt wird, um zumindest als Pendant zu den christlichen Texten auch jüdische Stimmen zu Gehör zu bringen.
All diese Rückfragen sind konstruktiv zu verstehen. L.s Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zu dem so bedeutenden Thema der Zionstradition und erfreut durch eine klare Diktion, die Einbindung der Aussagen in die Forschungsdiskussion und die umfassende Darstellung der Sachparallelen zu Ps 46 sowie durch interessante Einblicke in die redaktionsgeschichtlichen Zusammenhänge. Durch die gründliche Aufarbeitung der traditionsgeschichtlichen Bezüge kann sie geradezu als die Basis für eine Art »Kompendium der Zionstheologie« gelten, und all diejenigen, die sich künftig mit dem Thema beschäftigen, werden L. für seine Mühen danken.