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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

193–195

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Miller, Marvin Lloyd

Titel/Untertitel:

Performances of Ancient Jewish Letters. From Elephantine to MMT.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 317 S. = Journal of Ancient Judaism. Supplements, 20. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-55093-9.

Rezensent:

Thomas Johann Bauer

Zentrales Anliegen der Studie von Marvin Lloyd Miller ist es, das Konzept von »performance theory« bzw. »performance criticism« in der Analyse und Interpretation (früh-)jüdischer Briefe zu etablieren und das innovative Potential dieses methodischen Ansatzes anhand von Musteranalysen zu demonstrieren. Bei der Lektüre tritt jedoch von Anfang an in den Vordergrund, dass das eigentliche Interesse dem sogenannten »halachischen Brief« aus Qumran gilt (4QMMT bzw. MMT). M. möchte eine Lösung für zwei zentrale Probleme dieses Textes anbieten: zum einen für die Frage, mit welchem Recht dieser Text, dem eindeutige formale Kennzeichen fehlen, überhaupt als »Brief« angesprochen werden kann, zum anderen für die Frage, warum sich unter den Schriften von Qumran Fragmente von nicht weniger als sechs Kopien die-ses Textes finden, die untereinander erhebliche Unterschiede auf-weisen.
Entsprechend dem skizzierten Anliegen gliedert sich die Studie von M. in zwei Teile, von denen der erste theoretischen Überlegungen gewidmet ist und forschungsgeschichtliche und methodische Fragen diskutiert (Kapitel 2–4, 36–104), während der längere zweite Teil aus Briefanalysen besteht und damit die konkrete Anwendung der im ersten Teil entwickelten Methode auf (früh-)jüdische Briefe in hebräischer, aramäischer und griechischer Sprache darstellt (Kapitel 5–8, 105–266). Wie der Titel der Studie andeutet, umfasst die Auswahl der Beispieltexte zeitlich und geographisch das breite Spektrum von den Briefen der »jüdischen« Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine bis hin zum sogenannten »halachischen Brief« aus Qumran (4QMMT); am Anfang stehen allerdings zwei aramäische Briefe aus Hermopolis, die nicht jüdischen Ursprungs sind. Gerahmt wird die Studie von einer Einleitung, die in Vortrag und Darbietung (»performance«) als Gegenstand der Forschung und in das davon inspirierte Desiderat der Studie einführt (Kapitel 1, 17–36), sowie von einer abschließenden Zusammenfassung, die sehr knapp die wichtigsten Ergebnisse zusammenstellt, ohne offene Fragen und weiterführende Perspektiven für künftige Forschungen in den Blick zu nehmen (Kapitel 9, 267–274).
Angeregt durch »performance theory« bzw. »performance criticism« sieht M. es als ein wesentliches Defizit der bisherigen Forschung zu den (früh-)jüdischen und zu den antiken Briefen insgesamt, dass bei der Analyse und Interpretation nicht hinreichend bedacht wird, dass diese Texte dafür geschrieben und bestimmt waren, vor einer Zuhörerschaft in einem mündlichen Vortrag dargeboten zu werden. Dabei gehe es um mehr als das bloße laute »Vorlesen«. Die aus der Antike erhaltenen Briefe seien als Libretto oder Transkript eines Vortrags bzw. einer Aufführung oder Darbietung (»performance«) zu verstehen, die absichtsvoll gesetzte Signale oder Marker enthalten, die als Anhaltspunkte dafür dienen, wie der Text »performt«, also vorgetragen und dargeboten werden soll (Hinweise für Pausen, Modulation der Stimme, Gestik, Mimik etc.). Ihre Identifikation sei notwendig, weil die Art von Vortrag und Darbietung entscheidend zum Verständnis eines Briefes beitrage, da sie die Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer auf die wichtigen Aussagen lenke. Deshalb könne man diesen Aspekt bei der Analyse und Interpretation von Briefen nicht außer Acht lassen. Aufmerksamkeit verlange auch die Frage nach dem »Kontext« der Darbietung, d. h. die Frage für wen, wann, wo und von wem ein Brief vorgetragen werden sollte, weil damit die Frage nach der Funktion eines Briefes verbunden ist, wie sich umgekehrt an der Funktion das intendierte Publikum und der Anlass des Vortrags sowie die für die Darbietung vorgesehene Person erkennen lassen (32–34).
M. geht davon aus, dass die Darbietung eines Briefes dem Vortragenden einen Freiraum für Ergänzungen und Erläuterungen ließ und dass beim Vortrag Diskussionen über den Inhalt des Briefes möglich waren. Ersteres meint M. am Paschabrief aus Elephantine erkennen zu können, dessen Anweisungen für die Feier des Paschafestes unspezifisch bleiben und einer Präzisierung bedürfen (138 f.; vgl. auch 168 zu Jer 29). In Letzterem sieht M. eine Erklärung für das Problem der unterschiedlichen Versionen des »halachischen Briefes« 4QMMT, bei dem die einzelnen Fassungen die Dokumentationen verschiedener Darbietungen des Briefes bei unterschiedlichen Gelegenheiten und der damit verbundenen Diskussionen in der Gemeinschaft repräsentieren (249 f.). Religiöse Unterweisung, wie sie sich bereits im Paschabrief findet, verbindet 4QMMT auch mit dem »Brief« des Jeremia in Jer 29. Diesem Text fehlen die typischen formalen Kennzeichen eines Briefes (brieflicher Rahmen), so dass sich von Jer 29 aus das zweite Problem von 4QMMT erhelle, nämlich die Frage, ob und inwiefern man 4QMMT als »Brief« analysieren und verstehen kann (223). Dies führt bei M. zu einer Ausweitung der Definition von »Brief«, bei der nicht mehr die Briefform entscheidend ist, sondern bei der jeder Text als »Brief« qualifiziert werden kann, der sich bestimmen lässt als »a written form of communication from one person(s) to another who cannot communicate because of distance« (270).
Der zentralen These und dem methodischen Konzept der Studie zu folgen fällt schwer, zumal M. antike Quellen über den Brief als Libretto, die Freiheit des Vortragenden und anderes schuldig bleibt. Der zweimal beiläufig genannte 6. Brief Platons, der die Adressaten auffordert, ihn gemeinsam zu lesen, genügt dafür nicht (51.79). Es mag vorgekommen sein, dass ein Briefbote zusätzliche Informationen besaß, die er dem oder den Adressaten ergänzend zum geschriebenen Text mitteilte. Ein Briefbote, der zum Kreis der Vertrauten des Absenders gehörte, mag auch Unklares aus eigenem Wissen erklärt haben, und manchmal mag ein solcher Briefbote auch mit zusätzlichen Aufträgen des Absenders betraut gewesen. Daraus ergab sich aber sicher nicht die Freiheit oder gar der Auftrag, das Wort des Absenders nach eigenem Gutdünken bei der »performance« an die Situation und die Adressaten anzupassen und entsprechend zu ergänzen oder zu verändern, zumal viele Briefe im Alltag gewiss nicht vor Publikum »performt«, sondern von den Absendern selbst (leise) für sich allein gelesen wurden. Bei einem Text wie 4QMMT, dem die charakteristischen Formelemente eines Briefes fehlen und der kaum als Teil einer realen brieflichen Korrespondenz verstanden werden kann, ist zudem zu fragen, ob und inwiefern hier (vermeintliche) Konventionen der Briefpraxis Eigenheiten wie das Vorliegen unterschiedlicher Textfassungen erklären können. Bei den Briefanalysen, die die Texte anhand englischer Übersetzungen präsentieren, vermisst man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Rekurs auf den Wortlaut des aramäischen, hebräischen oder griechischen Textes, an dem sich die absichtsvoll gesetzten Textmarker für die mündliche »performance« zeigen lassen sollten (z. B. auch Rhythmisierungen und Wort- und Klangfiguren).
Einen Ertrag der Studie mag man darin sehen, dass sie autorenzentrierte Zugänge zu antiken Briefen korrigiert oder ergänzt, indem sie den Blick dezidiert auf ihren Kontext, d. h. auf die Rezipienten solcher Texte und ihr kulturelles Vorwissen lenkt; doch hat diese Perspektive auch in der »traditionellen« Analyse antiker Briefe durch die Einbeziehung der antiken Rhetorik und kulturgeschichtlicher Fragestellungen längst Eingang gefunden.