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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

191–193

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Lange, Nicholas de

Titel/Untertitel:

Japheth in the Tents of Shem. Greek Bible Translations in Byzantine Judaism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XII, 221 S. = Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism, 30. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-154073-8.

Rezensent:

Johannes Niehoff-Panagiotidis

Vom November des Jahres 2004 bis zum März 2005 war die großangelegte Ausstellung zu sehen, welche die Juden im europäischen Mittelalter zum Thema hatte. Der Katalog enthält auch eine Karte (19), welche die ungefähre Verteilung der differenten jüdischen Gruppierungen im Europa dieser Zeit verbildlicht. Dieses, der Gemeindestruktur der Juden kaum Rechnung tragende Verfahren ist wenig sinnvoll und weist für den europäischen Südosten eine Art blinden Fleck auf: Für Byzanz sind dort die »Romaniotes« (sic) aufgeführt. Diese, die großen Unbekannten der Judaistik und auch der Byzantinistik, sind das Thema des vorliegenden Bandes.
Nicholas de Lange kommt das hohe Verdienst zu, diese Gruppe überhaupt als Größe erfasst zu haben. Zwar gab es Vorarbeiten (Starr und Sharf), aber dem Vf. ist es gelungen, die ganz verschie-denen Quellengattungen (jüdische: hebräische und griechische; patristische, biblische und byzantinische) zusammenzuführen in eine große Gesamtschau, welche er in diesem Band gegeben hat.
Der Vf. hat dem Band dankenswerterweise eine knappe Autobiographie vorangestellt (IX ff.): Demnach ist er in beiden Gebieten, den »classics« und der hebräisch-rabbinischen Ausbildung, erzogen. Bereits seine Dissertation galt dem Thema »Origen and the Jews« (1976). Er ist ihm treu geblieben; am wichtigsten für den hier zu besprechenden Band ist dann, neben vielen Aufsätzen, sein opus magnum »Greek Jewish Texts from the Cairo Genizah«, erschienen 1996. Darin war es ihm, nach älteren, auch fremden Vorarbeiten gelungen, die von der genannten Sekundärliteratur gezogenen Grenzen zu sprengen – definitiv: Enthält doch diese mittelalterliche »Rumpelkammer« (Kahle) viel Material, das es erstmals gestattet, von dieser Gruppe ein klares Bild zu gewinnen.
Sie heißen »Romaniotim« nach der byzantinischen Eigenbezeichnung für das Reich, welches seine Bewohner als römisch auffassten, ̛Рωμανία, und sind als eigenständige Gruppe aufzufassen, welche in etwa mit dem byzantinischen Reich koextensiv ist. Vor 1944 durchaus in Griechenland vorhanden, gehören sie zu den Opfern der Shoa; traditionelles Zentrum ist Ioannina in Nordwest-Griechenland. Seit osmanischer Zeit sind die Sfaradim (sensu stricto) in den urbanen Zentren in der Mehrheit. Die Umwandlung romaniotisch – sefardisch in der Hauptstadt hat M. Rozen (2010) am besten dargestellt (fehlt bei Vf.); sie bleibt aber außerhalb des zeitlichen Rahmens dieses Buches. Diese Juden schrieben ihre Muttersprache, das Griechische, in hebräischer Schrift. Seit dem Mittelalter liegen immer zahlreichere Texte in dieser Sprache vor, die man »Judaeo-Greek« nennen mag. Es handelt sich dabei, dem Yiddischen vergleichbar, um einen archaischen, pränormierten Dialekt des Neugriechischen, welcher der zeitgenössischen δημοτική fern steht, aber Parallelen in der vornormierten Volkssprache des späten Byzanz findet. Hier fehlt dem vorliegenden Band manche Einzelheit (etwa 124; gegen 142); was jedoch eher in eine Spezialrezension gehört. Wichtig jedoch: Diese frühneugriechischen Texte sind die ältesten schriftlichen datierbaren neugriechischen Texte überhaupt (es fehlt das von Altbauer – Shiby edierte mittelalterliche Glossar zu den ham. Megillot).
Des Vf.s Hauptthema ist die Frage, welche für Theologen und Byzantinisten gleich grundsätzlich ist: diejenige nach den historischen Wurzeln dieses einen der vielen Judentümer. Emanzipierten sich doch alle »Judaeo«-Sprachen im Laufe der Geschichte vom Hebräischen, mit einer Ausnahme: Von den letzten biblischen Büchern bis zur Mishna ist das Griechische zweifellos die Hauptsprache des antiken Judentums (31 f. u. ö., s. ind.); außer in Palästina und in Babylonien. Symbol dafür ist die Septuaginta (LXX), einer der einflussreichsten Kulturtransfers der Weltgeschichte. Was wurde aus diesen griechischsprachigen Juden?
Der Vf. gehört nun zu den profiliertesten Vertretern der Kontinuitätshypothese. Das vorliegende Buch will vor allem dies: aufzeigen, wie die Juden, beginnend mit der rabbinischen Bewegung, den Status des Griechischen grundlegend änderten (»dramatic upheaval«, 31): Es wird zu einer Art Hilfssprache, über welche die Romanioten Hebräisch lernten (151), zum Verständnis des Ta­nakh.– Ob es eine vergleichbare Kontinuität auf dem lateinisch-romanischen Feld gab, wie Blondheim 1925 u. ö. annahm (21 ff.), was bedeutende Konsequenzen für Rashi hätte, wurde nie definitiv geklärt. – Dieser Prozess begann dem Vf. zufolge mit der Rückkehr zum Hebräischen am Beginn des 3. Jh.s n. Chr. und vollzog sich in den verschiedenen Gebieten Europas unterschiedlich schnell und auf verschiedenen Ebenen – hierher gehören die Inschriften von Venosa aus Süditalien, die von Rom (Rutgers 1995 fehlt), auch die Meg. Ahimaats (Bonfil). Wichtigste Zeugnisse sind für den Vf. die Übersetzung des Aquila (passim) und die Novelle 146 aus dem corpus iuris civilis (60 ff., basierend auf Vorarbeiten). Hier gelingen ihm neue und wichtige Einsichten über deren historischen Gehalt (wo­für das Buch von Veltri 1994 hätte zitiert werden sollen): etwa zur Rolle der aus dem Neuen Testament bekannten ‘Ελληνισταί. – Die Ausnahme Yehuda Hadassi, 12. Jh., behandelt der Vf. nicht.
Entscheidend für diesen Wechsel ist für den Vf. die frühbyzantinische Epoche, mithin etwa vom 4. bis zum 7. Jh. n. Chr. Danach traten insgesamt, mitbedingt durch die Abwehr der Muslime (Kleinasien wird zum Grenzland), tiefe Wandlungen auch in der christlichen byzantinischen Kultur auf (Haldon 1990). Entscheidend ist: Die Juden des Nahen Ostens wechselten danach zum Arabischen, die Mizrahim gelangten zu eigener historischer Größe. Die griechischen Juden verloren endgültig das Prestige, das ihnen seit alexandrinischen Zeiten eignete (s. Vf. 2001); belächelt von ih­ren sefardischen Nachbarn, gerieten sie ins Hintertreffen, bis heute.
Der Vf. geht in chronologischen Schritten vor; diese entsprechen in etwa den Epochen der byzantinischen Geschichte. Der Schwerpunkt liegt dabei durchaus auf den erhobenen Manuskripten, vor allem denen aus der Genizah (unter ihnen viele Palim-pseste); vgl. die nützliche komm. Liste auf S. 161 ff. Mit einleitenden Kapiteln versehen und den »conclusions« (139 ff.) kommt dem Buch auch ein guter pädagogischer Stellenwert zu.
Kurz: Ein hervorragendes Werk liegt vor, eher »state of the art« als das abschließende zum griechischen Judentum durch die Jahrhunderte. Gegen die in zahlreichen theologischen Proseminaren noch anzutreffende Legende vom Ende eines griechischen Judentums und der Aufgabe der LXX kann es nur empfohlen werden – als gute Übersicht auch den Spezialisten.