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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

184–185

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nesselrath, Heinz-Günther, u. Meike Rühl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung. Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. VI, 192 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 87. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-153091-3.

Rezensent:

Barbara Müller

Der Band vereint elf Beiträge, die mehrheitlich auf Vorträge auf dem Symposion »Menschenbilder zwischen Weltverantwortung und Weltflucht« zurückgehen, das im Rahmen des Göttinger Graduiertenkollegs »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder: Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike« 2011 durchgeführt wurde.
Adolf H. Borbein, »Bürger in der Polis. Das Menschenbild der klassischen griechischen Kunst«, 7–11. Es handelt sich hierbei um eine Kurzform einer andernorts publizierten ausführlichen Fassung. Borbein korreliert in seinem aufschlussreichen historischen Durchgang durch verschiedenartigste griechische Menschenporträts das materielle Erzeugnis mit der zeitgenössischen Sicht des Menschen in Gesellschaft und Polis. Dabei überwiegt trotz unterschiedlicher geistiger und politischer Voraussetzungen und darstellerischer Formen durchwegs ein aktiver Weltbezug.
Heinz-Günther Nesselrath, »Ein homerischer Held in Konflikt mit der Welt? Achill zwischen Flucht und Verantwortung in der Ilias und in der späteren griechischen Rhetorik«, 13–30. Nesselrath geht ausgehend vom »Zorn des Achill« der Frage nach, ob ein Individuum, das sich von der Gesellschaft ungerecht behandelt fühlt, sich von dieser abwenden darf oder ob es ihr nicht weiter dienstbar sein muss. Bereits dem 9. Buch der Ilias ist zu entnehmen, dass und wie die »Bindungen gegenüber einer Gemeinschaft« als Argumente, Achill zur Wiederkehr in die Heergemeinschaft zu bewegen, kontinuierlich wichtiger werden (19). Verstärkt werden sie in der Rezeption der Stelle bei Aelius Aristides, wohingegen Libanios die Rechte des Individuums stark macht.
Michael Erler, »Weltverantwortung und Weltflucht bei Platon und im Platonismus«, 31–45. Erler unterzieht die traditionelle Sicht, wonach sich Platonismus gerade auch mit Weltflucht verbindet, einer kritischen Analyse. Sowohl der platonischen Philosophie als auch der Politik gehe es nämlich um »Ordnung in der Seele und in der Gemeinschaft als Quelle für Gerechtigkeit und damit für individuelles und staatliches Glück« (36). Daher bezeichnet er Sokrates auch als »Politiker« (ebd.) und θεωρία als politischen Begriff (37–39).
Henrik Mouritsen, »›Pagane Lebensmodelle?‹ Gods, pietas, and maiores in the Roman republic«, 47–62. In einer Republik, in der »Weltverantwortung« einen moralischen Imperativ darstellt, ist »Weltflucht« keine Option (58). Erst das Kaisertum macht eine solche Lebensform und damit auch die Lösung von den maiores überhaupt bedenkenswert.
Meike Rühl, »Flucht nach vorn. Politische und literarische Positionierungen am Ende der römischen Republik«, 63–84. Rühl analysiert diverse Berichte über die Flucht Ciceros. Darin wird seine Abwesenheit von Rom unterschiedlich dargestellt, mindestens in seinen eigenen Zeugnissen als »Musterbeispiel für Verantwortungssinn« (83). Autor, Quellengattung und Adressat müssen also unbedingt berücksichtigt werden.
Jula Wildberger, »Simus inter exempla! Formen und Funktionen beispielhafter Weltflucht in der frühen Kaiserzeit«, 85–109. Diverse Philosophen(-schulen) praktizierten unterschiedliche Formen des Rückzugs, die sie verschieden begründeten. Bei einem solchen Rückzug handelt es sich eigentlich um ein »Paradoxon« (93). Äußerten sie sich doch, z. B. Seneca, häufig schriftlich und kommunizierten somit aktiv mit der Welt. Ebenso kann der Rückzug aus öffentlichen Ämtern als öffentlicher Akt betrachtet werden (95).
Philip Davies, »Halakhah and Apocalyptic«, 111–126. Davies kontrastiert eine weltzugewandte mit einer jenseitsorientierten Strömung im nachexilischen Judentum, die sich in Texten (z. B. Gen 1–11; Dan 9) jedoch bisweilen in spannungsvoller Art nebeneinander finden.
Samuel Vollenweider, »Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum«, 127–145. Ausgehend vom Diognet-Brief mit seiner prägnanten Sicht der Christen als »Bürger zweier Welten« (128) weist Vollenweider plausibel und im Folgenden methodisch reflektiert auf die moderne Wertung von »Weltverantwortung« (positiv) und »Weltflucht« (negativ) hin, die etwa den neutestamentlichen Texten nicht entspricht. Angemessen ist vielmehr die »flachere(n) Semantik« von »Weltdistanz« und »Weltzuwendung« (131).
Andreas Müller, »Weltflucht und Weltverantwortung im spätantiken Mönchtum nach der Historia Lausiaka des Paladios von Hellenopolis«, 147–165. Müller wendet sich gegen das Klischee des weltflüchtigen Mönches. Anhand der h. Laus. zeigt er exemplarisch auf, dass und wie frühe christliche Mönche und Nonnen gerade auch diakonisch-karitativ wirkten. Im Falle des Palladios ist dieser Fokus auch durch die Adressaten, nämlich die reichen konstantinopolitanischen Aristokraten und Aristokratinnen bedingt, die er als »Mittlerfiguren im Bereich der Weltverantwortung« bezeichnet (163).
Claudia Rapp, »Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums«, 168–179. Mit Fokus auf das frühe ägyptische Mönchtum stellt Rapp fest, dass völlige Abkehr von der Welt nicht nur bereits an der menschlichen Natur scheitert, sondern auch der ökonomischen Realität der frühen Klöster nicht entspricht. Insbesondere die aktive Teilnahme an der Ökonomie stieß bei Theoretikern des Mönchtums aber auf Missfallen, zeigt sich darin doch eine unvollständige Weltabkehr. Quellen über Besuche von Verwandten bestätigen diese Unvollständigkeit, ebenso die Literatur über die versucherischen Gedanken ( logismoi). »Die vollständige Weltflucht bleibt letzten Endes ein nicht realisierbares Ideal.« (177)
Martin Tamcke, »Das Menschenbild der kirchlichen Synoden bei den Ostsyrern zwischen Weltverantwortung und Weltflucht«, 181–188. Tamcke bezieht sich auf ostsyrische Synodalakten aus den Jahren 410–775/76. Er zeigt auf, wie die »Zugehörigkeit zur künftigen Welt« (187), die sich in einer Haltung der Gottesfurcht zeigt, die jetzige, negativ konnotierte auf die künftige, wahre Welt hin gestalten lässt.
Die zeitliche und kulturelle Spanne der präsentierten Beiträge ist weit – so weit, dass in der Einleitung zu Recht von »Einblicken in verschiedene Lebenswelten« (5) die Rede ist. Dies könnte leicht zu einem Sammelsurium beliebiger Untersuchungen ausarten. Dies ist bei diesem Band nicht der Fall. Und zwar nicht, weil die Beiträge aufeinander Bezug nähmen – das tun sie nicht –, sondern weil es sich bei der Mehrheit der Autoren um Experten handelt, die ihre Disziplin überblicken und nicht willkürliche Details präsentieren, vielmehr das generell Relevante sowie aussagekräftige Beispiele. Natürlich kann man Kritik anbringen, bei der es sich aber eher um Diskussionsfragen handelt. Z. B. fällt insgesamt nachgerade ein Bemühen auf, völlige Weltflucht mindestens zu relativieren und trotz vermeintlicher oder äußerlicher Weltabwendung eine Art von Weltzuwendung zu notieren. Darf totale Weltflucht denn nicht sein?! Man kann sich weiter fragen, weshalb der Band gleich zwei Beiträge zum christlichen Mönchtum enthält und weshalb keine Untersuchung zu durchschnittlichen Weltchristen. Man könnte auch kritisieren, dass insgesamt – in einzelnen Beiträgen zwar schon (vor allem Vollenweider) – keine konzeptionelle Klärung der Begriffe »Weltflucht« und »Weltverantwortung« erfolgt. Im eigentlichen Sinne zu monieren ist das Fehlen eines Autorenverzeichnisses. Insgesamt handelt es sich aber um einen gelungenen Band, der allen an Altertumswissenschaften Interessierten zu empfehlen ist.