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Ausgabe:

März/2017

Spalte:

181–184

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Janowski, Bernd [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2012. 320 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-05-005113-0.

Rezensent:

Jürgen van Oorschot

Wie die Philosophie eines Wilhelm Dilthey und nachfolgende Wissenschaften, etwa die Medizin oder Theologie, sich seit dem ausgehenden 19. Jh. um ein Verstehen der Einheit des Menschen mühen, so rangen bereits andere Jahrhunderte darum, den Menschen in seinem inneren Zusammenhang in und hinter dem Verständnis seines Leibes, seiner Seele und seines Geistes nicht zu verlieren. So mühte sich etwa die Alte Kirche im 2. bis 4. Jh. um eine Überwindung einer platonischen Dicho- oder Trichotomie, da eine solche Anthropologie mit dem Verständnis der christlichen Auferstehungsbotschaft und dem in Christus verkündeten Heil nicht vereinbar war. Irenäus von Lyon (ca. 130–200) und Gregor von Nyssa (gest. nach 394) formulierten hier für ihre Zeit eine neue Anthropologie (vgl. demnächst U. Volp, in J. van Oorschot [Hrsg.], Mensch, Themen der Theologie, Tübingen 2016). Sie bereiten mit dieser Anthropologie der mittelalterlichen und reformatorischen Soteriologie den Boden.
Dem vorliegenden Band zur Anthropologie kommt das Verdienst zu, 13 ausgewiesene Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster geisteswissenschaftlicher Fachdisziplinen mit einer Auskunft über das Menschenbild in ihren jeweiligen Bereichen zusammenzuführen. Mit acht Originalarbeiten und sechs wiederholt abgedruckten Beiträgen kann der Leser sich zu anthropologischen Aspekten in Ägypten, Mesopotamien, Israel, Griechenland und Rom, dem antiken Judentum und dem Urchristentum einen Überblick verschaffen.
Im einleitenden Beitrag »Der ›ganze Mensch‹. Zur Geschichte und Absicht einer integrativen Formel« (9–21) markiert der Herausgeber des Bandes, der Tübinger Alttestamentler Bernd Janowski, knapp an ausgewählten Beispielen die Intention der Rede vom ganzen Menschen, umreißt das Thema des Buches und skizziert die einzelnen Beiträge. Absicht des Bandes ist es demnach, den antiken Diskurs zum Menschen als Hintergrund für die gegenwärtigen Debatten in der Neurowissenschaft, in der Medizin, in den Kulturwissenschaften und der Ethik zu präsentieren. Ihr Bild vom Menschen und ihr Bezug auf ein Modell des ganzen Menschen soll zur Darstellung kommen. Der Band dokumentiere eine »neue Diskussion und fragt […] danach, wie das, was in der abendländischen Tradition als personale Identität bezeichnet wird, in den antiken Religionen und Kulturen gesehen und formuliert wird« (12). Auch wenn der Formel vom ganzen Menschen weder ein identifizierbarer Stoffbereich in den Anthropologien noch ein systematischer Ort in den Disziplinen zukommen (18), so verbindet der Herausgeber doch eine Programmatik mit dem Thema:
»Das Konzept des ›ganzen Menschen‹ scheint darum geeignet, Reduktionen bei der Bestimmung des Humanum zu überwinden und einen verstärkten Austausch zwischen den – im vorliegenden Fall: historischen und kulturwissenschaftlichen – Fachdisziplinen in Gang zu bringen.« (18)
Die beiden ägyptologischen Beiträge von Emma Brunner-Traut, »Der menschliche Körper – eine Gliederpuppe« (25–33), und Jan Assmann, »Konstellative Anthropologie. Zum Bild des Menschen im alten Ägypten« (35–56), konstatieren einerseits eine zergliedernde Tendenz ägyptischer Sprache, Kunst und Denkweise. Der sukzessiven Erfassung eines Gegenstandes, der primär nicht als Einheit betrachtet werde, entspreche auch das Körperverständnis und dessen Darstellung. »Ein aus vielen Teilen zusammengeknoteter Körper« (28) kennt weder eine anatomisch-physiologische Funktionseinheit noch die Vorstellung vom Leben als einem Prozess. Weitreichende Thesen reichen hier von der Sprache über das Erkennen bis zum bildlichen Darstellen. Anderseits findet Assmann im Herzen das Zentrum eines konstellativen Personenbegriffs. Das Herz sorgt somit als Zentrum der Person für Kohärenz, Bewusstsein, Identität, Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit, ist jedoch mit seiner Neigung zur Unruhe und zu starken Emotionen und Leidenschaften bleibend gefährdet.
Für den Bereich des antiken Mesopotamiens präsentiert Ulrike Steinert mit »›Zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch‹ Überlegungen zum altmesopotamischen Menschenbild« (59–81) Ergebnisse ihrer Göttinger Dissertation in einem noch wenig bearbeiteten Forschungsgebiet. Ein mesopotamisches Verständnis von personaler Identität wird dabei als pluralistisch, komplex (Kompositwesen) und als holistisch, fern eines Dualismus charakterisiert. Das plurale Personenverständnis wird auch an den vier Dimensionen der Seelenvorstellung entfaltet (Vitalseele; Egoseele; Außenseele; Totenseele). Annette Zgoll ergänzt in ihren Überlegungen »Der oikomorphe Mensch. Wesen im Menschen und das Wesen des Menschen in sumerisch-akkadischer Perspektive« (83–106) den Blick auf den Menschen »als offenes Gebilde, in dessen Innerem sich verschiedene Wesen tummeln können, welche mit ihm und in ihm agieren« (85). So werden positiv oder negativ herausragende Erlebnisse auf numinose Mächte im Menschen oder Manifestationen von Gottheiten zurückgeführt. Der Mensch kann dabei als Haus für numinose Wesen gedacht werden. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen verbindet nach Zgoll das dynamische Menschenbild eines: »›Geist‹ und ›Seele‹, Götter und numinose Wesen gehören dem Menschen […] nicht als feste, dauernde Eigenschaften an, sondern sie sind Akteure, die im Menschen agieren und denen der Mensch als Objekt ausgeliefert ist, denen er Raum bietet.« (99) Die Konfrontation von etischer und emischer Perspektive sensibilisiert abschließend für die hermeneutische Aufgabe.
Für das antike Israel und das frühe Judentum des Alten Testaments umreißt Bernd Janowski eine »Konstellative Anthropologie. Zum Begriff der Person im Alten Testament« (109–127), die den Menschen als komplexe und differenzierte Ganzheit wahrnimmt und seinen Körper als Kompositum seiner Glieder und Organe. Trotz aller Unterschiede in den alttestamentlichen Anthropologien verbinde sie eine Korrelation von Leib- und Sozialsphäre, das Axiom der Geschöpflichkeit und der konstellative Personenbegriff. Robert A. di Vito legt in seinem Beitrag »Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität« (129–152) den Akzent auf die Unterschiedenheit der alttestamentlichen Konzepte von gegenwärtig-neuzeitlicher Denkweise. Das biblische Subjekt sei anders als das moderne »dezentriert«, »unbestimmt hinsichtlich der Grenzen der Person«, mittels seiner sozialen Rollen definiert, »eher heteronom als autonom und selbstbestimmt« (149).
Drei Beiträge widmen sich Griechenland und Rom: Jean-Pierre Vernant, »Individuum, Tod, Liebe. Das Selbst und der andere im alten Griechenland« (155–171), Jan M. Bremmer, »Die Karriere der Seele. Vom antiken Griechenland ins moderne Europa« (173–198), und Jörg Rüpke, »Religiöse Individualität in der Antike« (199–219). Auf dem Hintergrund von Louis Dumont und Michel Foucault geht Vernant für das Griechenland des 8. bis 4. Jh.s. v. Chr. dem Individuum in seiner Einzigkeit, seiner Privatheit und innerhalb der sozialen Institutionen nach. Ergänzend erfasst er die Redeformen zum Subjekt, das sich wehrlos und doch voller Leben, als extrovertiert, im Außen erlebt. Eine Skizze zur Entwicklung der Vorstellung von der psyche und einer Sorge um sie schließen den Beitrag ab. In einem weiten Bogen umreißt Bremmer die Entstehung des See­lenkonzepts im antiken Griechenland, des Reinkarnationsgedankens und des Konzepts einer einheitlichen Seele. Über Anmerkungen zu frühen jüdischen und christlichen Entwicklungen hin beleuchtet er den Bedeutungsverlust der Seele in der Moderne. Entgegen landläufiger Verknüpfung von Antike mit Kollektivität führt Rüpke differenziert Phänomene von religiöser Individualität und Individualisierung in der römischen Antike vor (Praktiken religiöser Individualität; Individuelle Offenbarungen und Biographisierung der Autorschaft; Deifizierung; Orte religiöser Individualität) und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer historisch-anthropologischen Differenzierung.
Hermann Lichtenberger, »Der »gespaltene Mensch‹«. Menschenbilder in Qumran« (223–233), und Matthias Morgenstern, »Der ganze Mensch der Tora. Zur Anthropologie des rabbinischen Judentums« (235–266), beleuchten Aspekte des Themas im antiken Judentum. Dabei wird durch Lichtenberger das Profil der qumranischen Anthropologie von der überkommenen alttestamentlichen Überlieferung abgehoben. Als Spezifika zeigen sich dabei ein radikales Verständnis der Sündhaftigkeit des Menschen bei gleichzeitiger Rede von der Hoheit des Menschen und die dualistische Gespaltenheit des Menschen, der zum Kampfplatz wird. Auf dem Hintergrund der Herausforderungen, denen sich das Judentum nach den Niederlagen gegen die Römer gegenübersah, skizziert Morgenstern eine Anthropologie, die sich den irdisch-materiellen Herausforderungen stellt. Die Mutter und das zur Welt kommende Kind, Geschlechtlichkeit und die Abfolge der Generationen sind Themen, an denen das Verhältnis von Leib und Seele und Probleme einer gestuft-graduellen Anthropologie diskutiert werden.
Zwei Beiträge zum Urchristentum beschließen den Band: Gerd Theißen, »Das transformative Menschenbild der Bibel. Die Erfindung des ›inneren Menschen‹ und seine Erneuerung im Urchris­tentum« (269–287), und Klaus Neumann, »Der prüfende Blick. Die Person und ihr moralisches Universum in der Welt des Neuen Testaments« (289–313). Auf dem Hintergrund einer für das 6. Jh. v. Chr. angesetzten Erfindung des inneren Menschen (mit Gladigow und Assmann) und alttestamentlich konstellativen Anthropologie (mit Janowski) umreißt Theißen das Zusammenspiel von Zentrierung und Erneuerung des Menschen im Urchristentum. Die durch den Willen Gottes geforderte Zentrierung, die den Menschen überfordert, verbindet sich mit der Hoffnung auf seine Erneuerung und wird erst so lebbar. So kommt schon alttestamentlich zu Gott als dem extrinsischen und dem Herzen als dem intrinsischen Zentrum des Menschen die Hoffnung auf ein Überleben des Todes (272). Für die nachalttestamentliche Zeit zeige eine »dramatische Remythisierung des Inneren eine Krise dieses Menschenbildes«. (273) Darauf reagiere das Urchristentum mit einem ethischen (MtEv), soteriologischen (JohEv) und einem tranformationsdynamischen (Pls) Menschenbild. Sowohl Paulus als auch das Urchris­tentum insgesamt kennzeichne eine Pluralität der Menschenbil der, die angesichts der Komplexität des Lebens angemessen sei. Klaus Neumann führt den Rekurs auf die Bibel als einem Gründungsdokument des Individualismus in der Tradition des Abendlandes vor und kontrastiert dies mit einer ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Dekonstruktion individualistischer und kollektivistischer Schemata. Auf dem Hintergrund wissenschaftstheoretischer Klärungen führt er neutestamentliche und antike kollektivistische und Individualisierungsdiskurse vor, in denen sich die Frage nach der Zugehörigkeit des Menschen als zentral herausstellte.
Wer sich einen Überblick zu anthropologischen Diskursen in den hier behandelten Bereichen der Antike verschaffen will, findet in diesem Band knappe und informative Skizzen. Auch wenn, bzw. gerade weil die Zentrierung auf die Frage nach dem ganzen Menschen nicht durchgängig gelingt, wird deutlich, dass die Wahrnehmung dieser Diskurse die gegenwärtige anthropologische Diskussion nur bereichern kann.