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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

150–152

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bischof, Franz Xaver, u. Georg Essen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologie, kirchliches Lehramt und öffentliche Meinung. Die Münchener Gelehrtenversammlung von 1863 und ihre Folgen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 196 S. = Münchener Kirchenhistorische Studien. Neue Folge, 4. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-17-028949-9.

Rezensent:

Martin Ohst

Geführt vom ersten Jesuiten auf dem Stuhle Petri, erklimmt die römisch-katholische Weltkirche gegenwärtig eine neue Stufe ihrer Papalisierung. Auf diesem Weg markiert nach dem gregorianischen Kirchenreformversuch, der Entstehung der Bettelorden und der Selbstimmunisierung wider das Virus der Reformation auch das 19. Jh. eine wichtige Etappe: Seit den Befreiungskriegen orientierten sich katholische Hierarchen und Theologen zumal in Deutschland mit neuer Intensität an römischen Vorgaben, und die römische Zentrale beanspruchte ihrerseits die Führungsrolle in der deutschen Theologie und Kirche – im Streben nach deren Be?freiung von säkularisierenden Bindungen und Zwängen. Das führte zu Kämpfen, und im Jahre 1863 fand in München eine Gelehrtenversammlung statt, die Frieden anbahnen sollte. Angeregt war sie durch Ignaz von Döllinger, der einerseits als schneidiger Polemiker gegen den Protestantismus (die einschlägige Monographie von Stephan Leonhardt [Göttingen 22008] wird, wenn ich recht sehe, nirgends erwähnt – an evangelica non legantur?) im Ruf unzweifelhafter Kirchentreue stand, anderseits jedoch dem katholischen Christentum und seiner Theologie ihre Verwurzelung in der mo?dernen Bildungswelt und Wissenschaftskultur wahren und vertiefen wollte. In seiner mehrfach gedruckten und breit rezipierten Eröffnungsrede verwies er angesichts der Zerreißproben seiner Gegenwart für sein Befriedungsprojekt auf zwei Integrationsfaktoren, nämlich auf das stolze Bewusstsein nationaler Herkunft und Verantwortung sowie auf die gemeinsame Aufgabe, den Schaden der Reformation in ihrem Ursprungsland zu heilen, nämlich dadurch, dass die katholische Kirche alle christliche Substanz als ihr Eigentum aus den evangelischen Kirchentümern gleichsam in sich zurücksaugen und deren klägliche Reste dann dem Verfall anheimgeben solle.
Zum 150. Jahrestag dieses Ereignisses fand in München am selben Ort, der Benediktinerabtei St. Bonifaz, eine Gedenktagung statt. Nachdem Döllingers Eröffnungsvortrag von einem Schauspieler vorgetragen worden war, erörterten katholische Theologen das Ereignis und seine Wirkungen. Die dabei gehaltenen Vorträge sind hier dokumentiert. Eine nennenswerte Redaktion, die ein Ganzes erzeugt hätte, das mehr wäre als die Summe seiner Teile, hat nicht stattgefunden: Döllingers Rede ist zwar einleitend mit einigen verständnisfördernden Erläuterungen abgedruckt, aber die Verweise auf sie in den einzelnen Beiträgen sind diesem Ab?druck nirgends angepasst worden.
Auch von den explizit historischen Beiträgen des Bandes fasst lediglich der von Bischof (35–47) das Ereignis selbst und seine zeitgeschichtlichen Kontexte ins Auge. Die anderen lassen sich primär vom Interesse an dessen bis in die Gegenwart reichenden Wirkungen leiten. So verschwendet Neuners Beitrag (109–124) keine Mühe auf die Frage, wie Döllingers Ökumenismus-Konzeption im 19. Jh. rezipiert wurde, sondern zeigt lediglich, inwiefern sie in den einschlägigen Texten des II. Vaticanum nachwirkt. Die nationalkatholische Begründungsfigur von Döllingers Befriedungsprogramm bleibt unerörtert. Hubert Wolf (49–69) stilisiert das Breve »Tuas libenter«, in dem Pius IX. mit der Versammlung kritisch ins Gericht ging und von der Wissenschaft Gehorsam nicht nur gegen feierliche amtliche Lehrfestsetzungen, sondern auch gegen das ›ordentliche‹ kirchliche Lehramt einforderte, zum kirchengeschichtlichen Großereignis empor: Hier habe der Papst die zuvor der Wissenschaft, zumal der Theologie, vom kirchlichen Lehramt so großzügig konzedierte Freiheit in einer Weise beschnitten, die einen schweren Bruch mit der Vergangenheit bedeutete; der Bezug auf Thomas in diesem Zusammenhang (52) ist einigermaßen überraschend. Weiterhin macht er es durch vatikanische Aktenfunde wahrscheinlich, dass es Joseph Kleutgen SJ war, der dem Kurienkardinal Konrad Graf von Reisach, dem Verfasser des Breve, die zentralen Einsichten und Leitgedanken insinuiert hat, und so kommt er zu dem Schluss, jener Theologe sei »durch die ›Erfindung‹ des ordentlichen Lehramts verantwortlich für einen kaum zu unterschätzenden [gemeint ist: überschätzenden; M. O.] Bruch mit der bisherigen Tradition«, was letztlich auf »Häresie« herauslaufe (61). Dieses ganze ambitionierte Argumentationsgefüge erinnert an die pragmatische Kirchengeschichtsschreibung der späten deutschen Aufklärungstheologie, der Schleiermacher mit Recht vorgeworfen hat, dass sie durch ihr Erklärungsmuster ›kleine Ursachen – große Wirkungen‹ ein geschichtliches Ereignis zum Resultat von Zufällen mache, »weil man es nämlich in einem falschen Sinne für nothwendig ansieht« (KGA II/6, 10).
Ein historisch informierter Leser mit konfessionskundlichen Interessen wird hier neben bedenkenswerten Beobachtungen auch erhebliche Übertreibungen registrieren und gerade aus Letzteren seine Schlüsse ziehen. Besonderes Interesse verdient Rehaks gelehrte und scharfsinnige Studie über die Reichweite der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts (153–192). Aber sind die theologischen und kanonistischen Vexierfragen, die hier aufgeworfen und traktiert werden, nicht eigentlich schon längst klar und eindeutig beantwortet? Nach den ihrerseits infalliblen und irreformablen Lehrfestsetzungen auf dem I. Vaticanum hinsichtlich des päpstlichen Jurisdiktions- und Lehrprimats kann doch dessen Grenzen nur eine einzige Instanz auf der Welt gültig bestimmen, nämlich sein Inhaber selbst.