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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

144–146

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rothgangel, Martin, Skeie, Geir, and Martin Jäggle [Eds.]

Titel/Untertitel:

Religious Education at Schools in Europe. Part 3: Northern Europe. In cooperation with Ph. Klutz and M. Solymar.

Verlag:

Göttingen: Vienna University Press at V & R unipress 2014. 269 S. = Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft, 10.3. Geb. EUR 45,00. ISBN 978-3-8471-0273-1.

Rezensent:

Karlo Meyer

Die Varianten, mit Religion und den Religionen in (staatlichen) Schulen umzugehen, unterscheiden sich nicht nur erheblich zwischen den europäischen Ländern, sondern auch innerhalb von diesen. Schnell wird bei der Lektüre des vorliegenden Bandes zum nördlichen Europa klar, dass gängige Schubladen wie konfessioneller versus religionskundlicher Unterricht zu kurz greifen; vieles hat sich auch noch im letzten Jahrzehnt gewandelt. Die Wirklichkeit ist fast noch heterogener und kontextabhängiger als erwartet und reicht mindestens, was die offiziellen Versionen staatlicher Schulen angeht, von Lettland mit missionarischen Optionen über das moderat konfessionelle Modell Finnlands bis zum religionswissenschaftlich und plural orientierten Fach »Religion, Lebensphilosophie und Ethik« Norwegens, das weniger auf persönliche Entwicklung als auf Wissen abzielt (221), sowie Schweden, in dem die Lehrkräfte selbst in ganz überwiegender Mehrheit die sachliche Information im Vordergrund sehen (257 f.); daneben stehen der weitgehende Ausfall in Estland und der offenbar faktische Unterrichtszwang auch für religiös uninteressierte Lehrkräfte in Island.
Den Herausgebern der Reihe »Religious Education at Schools in Europe« kommt das Verdienst zu, Wissenschaftler aus jedem Land gewonnen zu haben, einheitlich strukturierte Artikel zu der jeweiligen Situation zu verfassen und so nicht nur einen ersten Einblick in das jeweilige Land, sondern auch zu zwölf Fragestellungen eine vergleichende Sicht zu ermöglichen. Den besagten oberflächlichen Etikettierungen – wie religionskundlich, konfessionell oder Ähnliches – wird so ein vertiefender Blick auf historische Hintergründe und Kontexte entgegengestellt.
Der Band befasst sich mit dem nördlichen Europa, zu dem neben den klassisch skandinavischen (inklusive Island) auch die baltischen Staaten gezählt werden. Den jeweiligen sehr klaren und hilfreichen Darstellungen gehen drei Artikel voraus: eine kurze Klärung der besagten zwölf Fragestellungen durch die Herausgeber, eine Einführung durch Geir Skeie, der offenbar hiermit unter den Herausgebern der Reihe als »native« des Nordens für diesen Band besondere Verantwortung übernimmt, und ein Grundsatzartikel von Oddrun Bråten. – Letzterer bleibt im gesamten Werk eigentümlich disparat. Bråten stellt nach hermeneutischen Erläuterungen ihr Konzept vor, bei Ländervergleichen zum Religionsunterricht eine supranationale, subnationale und nationale Di?mension, sowie gesellschaftliche, institutionelle, »instructional« und erfahrungsbezogene Ebenen zu unterscheiden. Dies ist nun weder besonders originell, noch – und das ist etwas irritierend bei der Lektüre – hat es irgend einen Bezug zu den folgenden Artikeln. Entsprechend hält sich die Ergiebigkeit in Grenzen, zumal es an Allgemeinplätzen nicht mangelt: Da Äpfel nicht Orangen seien und sich die Fächer um Religion und Religionen in Europa deutlich unterscheiden, meint die Vfn. gute Gründe zu haben »to ask whe-ther comparative efforts make sense« (20). Dies entpuppt sich er?wartungsgemäß als rhetorische Frage. Instruktiv ist immerhin, wenn sie die eher Insidern bekannte Übersetzungsproblematik von »konfessionell« ins Englische dargestellt (25 f.). Weniger erhebend ist die Unkenntnis der Vfn., wenn zum Beispiel der Hamburger Religionsunterricht als Beispiel für ein ökumenisches, also protestantisch-katholisches (!), Modell herangezogen wird (28).
Doch kommen wir zu den erfreulichen Länderdarstellungen: Trotz der einheitlichen Gliederung fällt schon am Stil auf, wie unterschiedlich die Herangehensweise und der Charakter des Selbst- und Religionsunterrichtsverständnisses mit ihren Prägungen ist. So beginnt die lettische Autorin zuerst mit der Unabhängigkeit ihres Landes 1990 und als Zweites dem Beitritt zur Europäischen Union 2004. Der finnische Beitrag stellt die lutherische Ausrichtung voran. Die Schwedinnen Christina Osbeck und Geir Skeie setzen mit einer Reflexion ihrer Positionalität ein. Da keine Zu?sammenschau der einzelnen Artikel erfolgt und der vergleichende Blick zu einzelnen Themen eines eigenen Forschungsartikels be?dürfte, kann an dieser Stelle nur auf singuläre »Fündchen« zu einzelnen Ländern hingewiesen werden, die dem Rezensenten aufgefallen sind und sein persönliches Interesse spiegeln; dies betrifft besonders die Form des Faches: So erfahren wir, dass sich Finnland aus dem skandinavischen Trend ausklinkt, einen einzigen allgemeinen Religionsunterricht anzubieten, vielmehr gibt das Land jeder noch so kleinen Gruppierung ihr Recht auf eine eigene Version; dazu zählen dann in dem nicht sehr bevölkerungsreichen Staat auch Adventisten, Buddhisten, Anthroposophen, Hare-Krishna und Bahai, die wie alle größeren Gruppen auch ihr eigenes Curriculum haben. Wem all das nicht behagt, kann als Alternative Ethik wählen (108); die Mindestzahl für eine Schülergruppe ist drei.
In Estland ist demgegenüber der Religionsunterricht nicht nur in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler, sondern auch in Bezug auf die Schule freiwillig: er kann auch einfach fortfallen; bis 2010 konnten die Rahmenrichtlinien von der Schule selbst verfasst werden (83); entsprechend findet Religion in 484 von 554 Schulen gar nicht und auch sonst nur als Wahlfach statt.
In Lettland kann je nach Lehrkraft im Christlichen Unterricht auch evangelisiert, also missioniert werden (160). Angesichts der Gesamtsituation findet die Verfasserin in einem Plädoyer am Ende eindeutige Worte: »Taking into account multicultural and multi-religious situation in Latvia, it is hoped that it will be possible to develop the religious and intercultural competence of Latvian society in order to reduce the distrust, intolerance and orthodox viewpoint about religious and cultural pluralism.« (169)
Litauen hat zwar ähnlich einen konfessionellen, vor allem katholischen Religionsunterricht, die Verfasserin sieht die Situation ihres Landes aber sehr viel positiver auf dem Weg interreligiöser Verständigung (189).
In Schweden kann der Name des Faches als »Religiöses Wissen« wiedergegeben werden (256). Es gibt in dreijährigem Rhythmus ein »national knowledge assessment […] including religious education for children 12 and 15« (240), was eine bemerkenswerte Vergleichbarkeit des religiösen »learning outcomes« mit sich bringt. Dies relativiert sich jedoch, wenn man eine halbe Seite später erfährt, dass in neun Schuljahren im Durchschnitt nur eine halbe Unterrichtsstunde »Religiöses Wissen« pro Woche erteilt wird. Fast nachwortartig geraten die letzten vier Seiten des schwedischen Artikels, wenn für diese Land – pars pro toto im Blick auf Skandinavien – auf die große konzeptionelle Bedeutung des englischen Religious Education verwiesen wird (258–261).
Diese Puzzleteilchen zeigen einerseits, dass sich durch die Vielfalt des Dargestellten für jeden Interessierten neue Aspekte und vielfältige Ansätze für nationenübergreifende Vertiefungen finden, andererseits wie kontextgebunden eben auch die unterschiedlichen Bedingungen u. a. durch Schullandschaft und politische In?teressen sind. Wer sich in diese Vielfalt vertiefen oder auch nur die Hintergründe eines einzelnen nordischen Staats eruieren will, der findet hier eine klar gegliederte, der Sache angemessene Einführung in die Fächer Religion, Religiöses Wissen, Christlicher Unterricht und so weiter acht verschiedener nordischer Länder.