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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

139–141

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Domsgen, Michael, u. Frank M. Lütze [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionserschließung im säkularen Kontext. Fragen, Impulse, Perspektiven.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 158 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03177-1.

Rezensent:

Thomas Schlegel

Es empfiehlt sich, dieses Buch von hinten her zu lesen. Denn im letzten Beitrag stellen die Herausgeber Hinweisschilder in einem Gelände auf, das noch weitgehend unvermessen ist: einer selbstverständlichen Konfessionslosigkeit. Zwar ist dieses »weite Feld« (146) all jenen gut vertraut, die im Osten Deutschland sozialisiert wurden – ins gesamtdeutsche Interesse ist es erst in den letzten Jahren getreten. Die Forschungsstelle »Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse« an der Martin-Luther-Universität Halle (Saale) widmet sich diesem Themengebiet freilich schon länger. Als ein Beleg für diese Pionierarbeit kann der vorliegende Band gelten. Er gibt eine erste Orientierung – wie angedeutet, die Systematisierung folgt am Ende: So unterscheiden die Herausgeber fünf Kategorien, die bei Wahrnehmung, Deutung und Handlungsorientierung zu bedenken sind.
Religionstheoretisch sei zu fragen, ob die geringe Kirchlichkeit in Ostdeutschland wirklich als Religionslosigkeit gewertet werden könne. Ja und Nein bilden dabei »zwei interpretative Pole« (147), je nachdem, ob man nun einen substantiellen oder funktionalen Religionsbegriff vertritt. In ihrer Reinform problematisch, sollen sie auch keine simplen Alternativen darstellen. Sie spannen vielmehr ein Deutungsfeld auf, auf dem man die Autoren verorten kann: In seinem Eröffnungsbeitrag lässt Wilhelm Gräb den Leser nicht im Unklaren. Gleich mit dem ersten Satz deutet er an, welchem religionstheoretischen Pol er zugeneigt ist: »Konfessionslose in Deutschland – auch sie sind nicht ohne Religion.« (11) Religiöse Bildung könne deshalb »auf die Bereitschaft der Individuen setzen […], die christlichen Glaubensinhalte in die Vollzüge ihrer religiösen Sinndeutung zu integrieren« (21). Freilich, es finden sich auch bei Gräb Reflexe des substantiellen Religionsbegriffes, wenn er die »Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz« zum Kriterium eines »religiösen Glauben« erhebt. Aber dies sind nur inkon-sistente Brechungen eines sonst klaren Programms: Auch in den lebenspraktischen Vollzügen Ostdeutscher existiert eine »verborgen bleibende religiöse Dimension« (21). Es bleibt die schale Frage zurück, woher Gräb von diesen religiösen Tiefenschichten weiß. Letztlich lassen sich diese nur empirisch erschließen, wenn die Ergebnisse wissenschaftlich valide sein wollen – meint Gert Pickel, weshalb er vehement für einen substantiellen Religionsbegriff eintritt. Der funktionale sei wegen seiner Weite schlicht nicht messbar. Will man die besondere Gemengelage in Ostdeutschland wirklich erfassen, müssen »Vergleiche über Raum und Zeit« (58) möglich sein, weshalb quantitative Methoden, die weniger das In?dividuum als vielmehr gesellschaftliche Prozesse im Blick haben, unbedingt zu bevorzugen sind. Auch wenn er Wilhelm Gräb nicht unmittelbar erwähnt, ist die Abgrenzung von dessen Position überdeutlich: Ja, die »Hoffnung auf vielfältige andere, unsichtbare oder versteckte Formen der Religiosität, welche dann eine trügerische Hoffnung geben, dass man vielleicht keine endgültigen Verlustprozesse zu erleiden hat, ist problematisch, wenn nicht gefährlich« (58 f.). In der Suche nach Klarheit, die hier mit selbstkritischer Ehrlichkeit einhergeht – die Schwächen der eigenen Präferenz werden offengelegt –, wirkt Pickels Ansatz insgesamt überzeugender.
»In welcher Weise gehört Religion zum Menschsein?« Stellt sie eine kontextabhängige Variable dar oder eine apriorische Konstante? Auch auf dieser anthropologischen Kategorie öffnet sich ein Antwortspektrum, das unmittelbar Einfluss auf Religionserschließung im säkularen Kontext ausübt. Ausführlich wendet sich Eberhard Tiefensee diesem Thema zu.
Dabei nähert er sich der A-Religiosität zunächst diachron: Nicht nur bei den Zeugen des 18./19. Jh.s erscheint Metaphysik als naturgegeben; selbst bei den »religiös Unmusikalischen« wie Weber oder Schnädelbach wird A-Religiosität als etwas Defizitäres angesehen – als etwas, was normalerweise eben zum Menschsein gehöre. Weil inzwischen aber Säkularität »die Gesamtkonzeption der Lebensführung eines großen Teils der Bevölkerung darstellt« (28) – und man diesem das Menschsein nicht absprechen kann, gerät das Konzept eines homo naturaliter religiosus in die Zange. Beides aufrechterhalten kann man nur, wenn man den Begriff der Religiosität nachjustiere – und hier sieht Tiefensee das Einfallstor für funktionalistische, individualistische Konzepte à la Luckmann. Da Reli-gion damit aber drohe, unbestimmt zu werden, schlägt Tiefensee einen anderen Weg vor: die Unterscheidung allgemeinmenschlicher Charakterisierungen und jeweiliger individueller Ausprägung. Religion sei eine menschliche Disposition, die nicht immer aktualisiert wird. Defizitär ist der konkrete Ungläubige deshalb nicht, weil kein Mensch ein »bloßer ›Fall von Menschsein‹ ist« (32). Im zweiten Teil sucht Tiefensee nach einer Plausibilisierung für eine allgemeine Religiosität. Er findet sie im vorsprachlichen, un?bestimmten »Kontingenzerleben« (37), womit er sich Schleiermacher und Luckmann wieder annähert. Für Tiefensee handelt es sich dabei nicht um Religion, sondern um etwas, was noch vor der sprachlichen Chiffrierung liege – also auch rein immanent codiert werden könne. Religionserschließung hieße in diesem Fall, dass »horizontverändernde Erfahrungen« den Interpretationsrahmen änderten, worin Tiefensee die biblische Metanoia realisiert sieht.
Die praktisch-theologischen Grundsatzfragen stellen den dritten Bereich dar, in dem die Weichenstellungen für Religionserschließung im säkularen Kontext erfolgen. Herausforderung sei dabei, »die Erkennbarkeit der Kommunikation des Evangeliums bei gleichzeitiger Offenheit für andere Arten religiöser Kommunika-tion« (151) zu gewährleisten. Klar und offen, nur eines der beiden Attribute wäre den Herausgebern zu einseitig, wieder also öffnet sich ein Spektrum an möglichen Positionen. Schon durch das Leitbild einer »Kommunikation« kann Christian Grethlein dem Wunsch der Herausgeber nach Differenzierung entsprechen: »Dialogisch«, »ergebnisoffen«, aber stets am »christlichen Grundimpuls durch Jesus« (79–84) orientiert. Gerade der Rekurs auf die drei Kommunikationsmodi, in denen Jesus das Reich Gottes verkündete (Lehren und Lernen, gemeinschaftliches Feiern und Helfen zum Leben), scheint Grethlein in Ostdeutschland besonders verheißungsvoll: Bei Lehr- und Lernprozessen sollte besonders auf die DDR-Propaganda der Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Glauben eingegangen werden; insgesamt gelte aber »in missiona-rischer Hinsicht«, dass dem »gemeinschaftlichen Feiern« und dem »Helfen zum Leben« (87) eine hohe Bedeutung zukommen dürfte.
»Wie ist kirchliches Handeln angesichts dieser kontextuellen Herausforderungen zu profilieren?« – Es eröffnet sich in diesem vierten Themenfeld kein konturiertes Spektrum, sondern eine diffuse Landschaft.
»Deutlich ist bisher nur, dass die vorhandenen Konzepte nicht ausreichend sind« (152) – und, dass Menschen, die das Evangelium kommunizieren, große Bedeutung zukommen wird. Dies werde stärker in außerinstitutionellen Formen geschehen. Ein Sammelsurium guter Ratschläge bietet der Aufsatz von Axel Noack. Für die kirchliche Arbeit empfiehlt er zunächst Haltungen (mit dem Dank beginnen, im Schrumpfen fröhlich bleiben, von der Quelle her leben, Konfessionslosigkeit ernst nehmen, ökumenisch denken etc.), sodann konkrete Ansatzpunkte: Mitarbeiterpflege, Kirchbauvereine, das neue Ehrenamt, Kasualien, Schule und Kindertagesstätten. Er plädiert für Milieukirchen und wünscht sich im Land »fromme, betende und bibellesende Menschen« (134), die verlässlich für ihr Gemeinwesen einstehen – und seien es nur wenige. Aus seiner praktischen Arbeit als Pfarrer in Mitteldeutschland berichtet Tobias Bernhardt, Reiner Knieling nimmt die missionarischen Bildungsangebote in den Blick und führt in die EKD-Kampagne »Erwachsen Glauben« ein. Geschmack gebildet hätten Glaubenskurse (in der Regel) weniger, sie fußten ihrerseits darauf, dass Menschen schon Interesse besaßen. Geschmacksbildung für Unberührte verspricht er sich durch die »Ökumene der dritten Art« (im Anschluss an Tiefensee), einen offenen Gesprächsprozess, der für beide Seiten neue Aspekte und vor allem Erfahrungen zutage fördern kann.
Noch einmal zugespitzt auf religionspädagogische Herausforderungen in Ostdeutschland wird die Thematik im fünften Themenkomplex. Hier jedoch geben die Herausgeber keinen Überblick über die Bandbreite möglicher Positionen, sondern positionieren sich ihrerseits – was die Pionierfunktion der Forschungsstelle un?terstreicht. Grundlegender als im Epilog tritt der »Hallenser Ansatz« im Beitrag von Michael Domsgen hervor, der durchaus als religionspädagogische Missionstheologie für einen historisch neuen Kontext gelesen werden kann, in dem »nicht davon auszugehen ist, dass irgendeine Form von Religion praktiziert wird, über die man sich verständigen könnte« (112 f.). Glaubenserschließung versteht Domsgen als Geschehen, »in dem das religiöse Potential eines Menschen in Richtung eines Ideals religiöser Reife zu aktualisieren und zu entfalten versucht wird« (102). In solchem »religiösen Lernen« seien die impliziten Aspekte besonders bedeutsam: »Wer religiös kompetent sein will, und zwar unabhängig davon, ob er sich diese Weltsicht zu eigen macht oder nicht, braucht auch Erfahrungen mit dem Gegenstand.« (104) So solle es – mit Schleiermacher gesprochen – weniger um Mitteilung als vielmehr um Darstellung gehen.
Daraus ergibt sich eine hermeneutische und gleichermaßen eine kommunikative Aufgabe: Neues Verstehen von Umfeld und eigener Tradition – eingebettet in Alltagskommunikation: »Es klingt banal, erweist sich in der Praxis jedoch als ernst zu nehmende Hürde: Wer das Evangelium mit Konfessionslosen kommunizieren will, muss das gemeinsame Leben mit ihnen suchen, der muss ihre Ängste und Sorgen kennen (und das nicht nur vom Schreibtisch her).« (114) Neben dieser Beziehungsebene sind allerdings auch symbolische Rituale (im Schulalltag etwa) und öffentliche Inszenierungen wichtig. Man könne Glauben nicht schaffen, aber man könne »Situationen schaffen, die Anschlüsse eines Zum-Glauben-Kommens ermöglichen.« (116) Inhaltlich »geht es darum, den Glauben als hilfreich für die eigene Lebensführung und Persönlichkeitsentwicklung erlebbar werden zu lassen.« (119) Domsgens Ausführungen überzeugen nicht nur wegen ihrer theoretischen Anfahrt zu einer Glaubenserschließung in Ostdeutschland, sondern auch wegen ihrer praktischen Implikationen.