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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1125–1127

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meiser, Martin

Titel/Untertitel:

Die Reaktion des Volkes auf Jesus. Eine redaktionskritische Untersuchung zu den synoptischen Evangelien.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XII, 437 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 96. Lw. DM 228,-. ISBN 3-11-016364-0.

Rezensent:

Günter Haufe

Das hier anzuzeigende Buch ist die überarbeitete Fassung einer von der Evang.-Theol. Fakultät Erlangen im WS 1996/97 angenommenen Habilitationsschrift. Sie geht der Frage nach, welche theologische Bedeutung die Verfasser der synoptischen Evangelien der Reaktion des Volkes auf Jesus zumaßen, und möchte eben so einen Beitrag zur Interpretation dieser Evangelien leisten. Die leitende Fragestellung ist also eine redaktionskritische, schließt aber Aspekte narrativer und pragmatischer Analyse ebensowenig aus wie form- und traditionsgeschichtliche Überlegungen. In der Tat ist es ein weiter Anmarschweg, bis der Autor auf S. 109 zu seinem zentralen Thema kommt, wobei selbst dann ausgedehnte literarkritische Analysen der fraglichen Texte immer wieder fast vergessen lassen, um welches eigentliche Thema es geht.

Unter der Überschrift "Ziel und Methodik unserer Untersuchung" setzt der Vf. sinnvoll mit einem Forschungsbericht zum Thema ein. Er informiert über philologische, formgeschichtliche und redaktionskritische Beiträge. Der Überblick führt auf die Notwendigkeit einer vergleichenden Darstellung der synoptischen Evangelien, die das Ganze der Belege berücksichtigt und diese in das jeweilige Gesamtwerk integriert. Das ist bisher monographisch noch nicht geleistet worden und schon deshalb eine Bereicherung für die Fachwelt.

Die eigene Untersuchung des Autors beginnt mit Erörterungen zum "Subjekt der Volksreaktion", wobei philologisch der Begriff ochlos im Mittelpunkt steht. Im Bereich der Profangräzität gilt die Menge als politisch unreif und seit Heraklit als unfähig zu Philosophie und vernünftiger Lebensweise. Alle Philosophenschulen sehen "die Vielen" im Gegensatz zum Weisen. Adressat der philosophischen Botschaft ist nicht die Menge, sondern der einzelne in ihr. Steht auch Jesu Wirken in Analogie zum Wirken der stoisch-kynischen Wanderprediger, so teilt doch er, der sein gesamtes Volk Israel auf die Heilszeit der Gottesherrschaft vorbereiten will, dieses verbreitete Negativurteil über die Menge nicht. Das gilt auch schon für die alttestamentliche und frühjüdische Geschichtsschreibung, nicht aber mehr für Josephus, die Weisheitsliteratur sowie die apokalyptische und rabbinische Literatur, die trotz des umgreifenden Erwählungs- und Gottesvolkgedankens auf verschiedene Weise von der versagenden Menge wissen.

Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit der "Formgeschichte der Admirationen und Akklamationen". Die begriffliche Unterscheidung übernimmt der Vf. von G. Theißen, der unter dem Begriff der Admiration alle erzählerischen Momente zusammenfaßt, "die ein Staunen, Fürchten, Sich-Entsetzen, Verwundern zum Ausdruck bringen". Admirationen als außersprachliche Verhaltensweise begegnen in Anfangs-, Mittel-, Schluß- und Folgestellung. Der Vf. nennt acht Verben, die in synoptischen Admirationstexten vorkommen und zu untersuchen sind (86). Auf ihre detaillierte und differenzierende Untersuchung wartet der Leser freilich vergeblich, wie er denn auch einen eigenen Abschnitt über "Admirationen im Neuen Testament" vermißt. Als Ergebnis wird festgehalten, daß das admirative Verhalten der Volksmenge Jesus gegenüber nach pagan-antiken wie nach alttestamentlich-frühjüdischen Analogien dazu dient, "die Präsenz Gottes in Jesus Christus herauszustellen" (101). Das ist theologisch sehr steil formuliert.

Akklamationen als sprachliche Reaktionen begegnen als besprochene in zentraler, als erzählte in finaler Stellung. Letztere, für die vor allem die Chorschlüsse der synoptischen Wundergeschichten stehen, finden sich im jüdischen Bereich nicht, wohl aber im hellenistischen. Diese Tatsache verdient m. E. stärkere Beachtung. Im einzelnen sind die neutestamentlichen Akklamationen teils titular, teils nicht-titular gehalten. Die älteren Belege besagen, daß in Jesus Gottes Macht am Werk ist, die jüngeren, daß Gott um der Wundertat willen gelobt wird.

Ausführlich analysiert wird die Reaktion des Volkes auf Jesu Wirken nach Markus, Matthäus und Lukas. Eine historisch plausible Entwicklungslinie ergibt sich nicht. Sachlich stehen sich die positiv klingenden Chorschlüsse und die ablehnenden Äußerungen der Menge in der Passionsgeschichte gegenüber. Das Hauptinteresse der Darstellung gilt der jeweiligen Funktion der Volksreaktionen im Blick auf den Leser, der die narrative Analyse nachgeht.

Von Bedeutung sind die abschließenden Einsichten: Admirationen fungieren in den Einzeltexten wie auf der Ebene der Endredaktion als Hinweis auf den Glaubensgrund, d. h. auf die Realität des Göttlichen im Wirken Jesu, Akklamationen ebenso, insbesondere als Autoritätsaufweis zugunsten Jesu. Im einzelnen haben Volksreaktionen bei Markus epiphanietheologische und missionstheologische, bei Matthäus israeltheologische, bei Lukas israeltheologische und missionstheologische Funktionen. Mehrfach bezeichnet der ochlos-Begriff bei Markus das missionarische Umfeld der Gemeinde. Matthäus wie Lukas differenzieren deutlich zwischen der Volksmenge und den Hierarchen für die Zeit des irdischen Jesus, während die eigene Zeit unter dem Vorzeichen weitgehender Ablehnung des ungläubig bleibenden Teils Israels beschrieben wird. Nur bei Lukas dient der ochlos-Begriff teilweise als Negativ-Folie für die vita christiana, auf deren Hintergrund der Christ als Glied einer religiösen Elite erscheint. Die missionstheologischen Volksreaktionen veranschaulichen insgesamt die Realität von partieller Annahme und Ablehnung, mit der die Gemeinde leben muß, die epiphanietheologischen unterstützen die Legitimität des christlichen Weges.

Insgesamt wäre der Arbeit eine straffer an der leitenden Fragestellung orientierte Darstellung sehr zugute gekommen. Wahrscheinlich wäre dann auch der sich mehrfach aufdrängende Eindruck einer Überinterpretation der Texte vermieden worden. Das ändert nichts daran, daß auch der kritische Leser reiche Belehrung empfängt.