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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

130–132

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Brunn, Frank Martin

Titel/Untertitel:

Sportethik. Theologische Grundlegung und exemplarische Ausführung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XVI, 449 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 169. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-034906-1.

Rezensent:

Christoph Seibert

Frank Martin Brunn hat mit seiner »Sportethik« ein äußerst wichtiges Buch geschrieben, allzumal für den Bereich des Protestantismus. Eine Rezension mit einem solchen Satz einzuleiten, mag vielleicht etwas unverhältnismäßig und übertrieben klingen, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass mit diesem Werk die m. W. erste umfassende Monographie zum Thema aus der Perspektive einer zeitgenössischen evangelischen Ethik vorliegt. Bislang prägte das Aufsatzformat die ethische Beschäftigung mit den Phänomenen des Sports (z. B. bei E. Herms oder W. Huber). Dabei geht das Buch auf die Habilitationsschrift zurück, die der Vf., der theologisch dem Umfeld von Wilfried Härle zugerechnet werden kann, vor einigen Jahren an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Main) eingereicht hat.
Der Vf. entwickelt zunächst einen sportethischen Ansatz, der um die Leitkonzepte »Leiblichkeit«, »Spiel« und »Menschenwürde« kreist; dieser wird dann in der Beschäftigung mit Themenfeldern erprobt, die für den gegenwärtigen Sport relevant erscheinen. So gesehen verschränkt das Buch eine prinzipienethische mit einer anwendungsethischen Perspektive, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass der Vf. nicht nur aus der Außenperspektive auf den Sport blickt, sondern als langjähriger Judotrainer zugleich über reichhaltige Innenansichten in einer bestimmten Sportart verfügt. In der Gestaltung der Arbeit macht sich das u. a. darin bemerkbar, dass grundbegriffliche Klärungen immer wieder an konkreten Materialien veranschaulicht werden. Kategoriale und empirische Reflexion gehen hier also eine lesenswerte Synthese ein.
Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, deren Gegenstände ich nur kurz andeuten werde: Nach Bemerkungen zum Forschungsstand und Aufriss der Arbeit (1–20) nimmt der Vf. im zweiten Kapitel eine Verhältnisbestimmung zwischen Sportethik und allgemeinen Ethik mit folgender Pointe vor: Sportethik könne nicht für sich allein stehen, sondern müsse im Zusammenhang mit einer allgemeiner Ethik entfaltet werden, für die gelte, dass sie ihrerseits auf weltanschaulichen, mithin anthropologischen Voraussetzungen beruhe. Diese seien daher explizit zu machen. In ähnlicher Weise sei das Ethos derjenigen, die Sport treiben, von den jeweiligen Le?bensüberzeugungen geprägt (21–53). Die angedeuteten Voraussetzungen entwickelt der Vf. dann in den nachfolgenden Kapiteln: Im dritten Kapitel wird ein biblisch fundierter und phänomenologisch orientierter Begriff der Leiblichkeit ausgearbeitet (53–132); das vierte Kapitel widmet sich einer Bestimmung des Sportphänomens ausgehend von einer handlungstheoretischen Fassung des Spiels (133–196); im fünften Kapitel wird mit der Idee der Achtung vor der Menschenwürde der normative Leithorizont der Arbeit entfaltet (197–277) und im sechsten Kapitel mit Blick auf »exempla- rische[] Themen der Sportethik« kenntnisreich und anschaulich erprobt: Doping, Geschlechterdifferenz, Umweltschutz, Politi-sierung und Kommerzialisierung des Sports, Sport als Medium der Identitätsbildung (278–389). Eine Zusammenfassung (390–406) schließt die Studie im siebenten Kapitel ab.
Obgleich unter aktuellen anwendungsethischen Gesichtspunkten vor allem die Lektüre der einzelnen Themenfelder hochgradig interessant ist, beschränke ich meine Darlegung auf das konzeptionelle Herzstück des Buches, d. h. auf die Überlegungen zur Leiblichkeit, zum Spiel und zur Menschenwürde. Erstens: Was die Gewinnung eines Begriffs der Leiblichkeit angeht, setzt der Vf. beim Leib-Seele-Problem ein, wie es in der philosophy of mind behandelt wird. Er referiert verschiedene Positionen, um schließlich alle Formen der Dichotomie durch Rekurs auf den biblischen Sprachgebrauch, der von einer relational verfassten »ungeteilten Ganzheit« (92) des Menschen ausgehe, als unangemessen zurückzuweisen.
Dieses Ergebnis wird sodann unter phänomenologischen Ge?sichtspunkten weiterentwickelt, wobei Th. Fuchs und B. Waldenfels als Referenzautoren fungieren. Im Hintergrund steht dabei die Überzeugung, dass biblische und phänomenologische Anthropologie füreinander enorm anschlussfähig seien (94). Der Übergang dieser anthropologischen Analyse zur sportethischen Perspektive wird in das Gewand der Semiotik gekleidet. Im Sport komme es nämlich zur »Verleiblichung von Sinnstrukturen« (114), so dass »Körper« und »Leib« mit Peirce als Zeichenprozesse rekonstruiert werden können. Die Peirce’sche Semiotik »vertieft« (19.393) somit den auf anderer Basis bereits inhaltlich entwickelten Begriff der Leiblichkeit. Zweitens: Was das Phänomen »Sport« angeht, so wird es nach einer differenzierten Bestimmung des Spielbegriffs zunächst als »leibliches Spielen« (154) verstanden. Diese These wird anschließend unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten wei?ter entwickelt. Dabei fungieren vor allem Schleiermachers Ethik sowie E. Herms’ Differenzierung zwischen Erkundungs-, Darstellungs- und Bekenntnissinn als Leitlinien einer Interpretation, im Zuge derer der Vf. den Sport anhand einer »neunfache[n] Unterscheidung« (173) näher bestimmt. Demnach schließe sportliche Tätigkeit drei Handlungsebenen (Zuschauer, Interaktanten, Selbsterleben), eine dreifache Handlungsstruktur (Wiederholung/ Modifikation, Dialog, Grenzerkundung) sowie die soeben markierten drei Sinndimensionen in sich ein. In dieser Komplexität könne der Vollzug des Sports unter theologischen Gesichtspunkten dann auch als »implizite[s] Gotteslob« (185) gedeutet werden. Drittens: Die normativen Dimensionen dieser vor allem deskriptiv ausgerichteten Ausführungen werden über die Idee der Menschenwürde erschlossen, die jedoch nicht als übergeordnetes ethisches Prinzip, sondern mit Härle als ein »ethisches Leitbild« (198: vgl. 27) zu verstehen sei, das in sich selbst schon die Potentiale seiner Konkretion trage. Mit dieser Wahl ist die Hoffnung verbunden, anschlussfähig an den gesellschaftlichen Diskurs zu bleiben, ohne einen theologischen Profilverlust zu erleiden. Denn Menschenwürde lasse verschiedene Deutungen zu, unter ihnen die christliche Deutung, die den Grund der Würde in die Gottesbeziehung verlagere, mithin die »Gottebenbildlichkeit als Menschenwürde« (222) verstehe. Nachdem der Vf. die christliche Deutungsoption näher entfaltet hat, geht er dazu über, die angekündigten sportethischen Konkretionen seiner Leitbildethik zu entwickeln: Er nennt vier »Aspekte« (235), unter denen die Menschenwürde im Bereich des Sports zu achten sei – Leben/Gesundheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit/ Fairness, Verantwortung – und führt anschließend aus, worauf es dabei grundlegend ankommen solle. Diese Ausführungen leiten dann wie von selbst zur exemplarischen Themenbehandlung angewandter Sportethik über.
Fazit: Dass es sich bei dieser »Sportethik« um ein wichtiges Buch handelt, das darüber hinaus reichlich Anschauungsmaterial liefert und sehr klar geschrieben ist, habe ich schon anmerken lassen. Ihm sind viele Leser und Leserinnen zu wünschen, und zwar unbeschadet meiner Kritik, die ich ebenfalls nicht verschweigen möchte. Sie ist weniger materieller als konzeptioneller Art und betrifft in der Hauptsache den Status der semiotischen Analyse, die zusammen mit der phänomenologisch-biblischen Orientierung zum konzeptionellen Herzstück des Buches gehört. Bei der weiteren Lektüre fällt jedoch auf, dass die dabei gewonnenen Einsichten nicht mehr konsequent auf andere Themenbestände übertragen werden. So wird schon das Spielphänomen unter einem tendenziell anderen Leitgesichtspunkt erschlossen (Ausnahme: 166–185), bei den Über legungen zur Menschenwürde fällt die zuvor eingenommene Un?tersuchungsperspektive fast vollständig aus. Meinem Leseeindruck zufolge scheint der Entwurf an manchen Stellen »aus dem Ruder« zu laufen bzw. »Kurswechsel« einzuschlagen, bei denen ich mich frage, wie sie mit der zunächst angekündigten Kursbestimmung zusammenhängen. Anders gewendet hätte das Buch an in?nerer Systematik gewinnen können, hätte man den gewählten biblisch-phänomenologisch-semiotischen Grundansatz konsequent auf andere Themenbestände, etwa die Menschenwürdethematik, übertragen.