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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

117–119

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grau, Marion

Titel/Untertitel:

Refiguring Theological Hermeneutics. Hermes, Trickster, Fool.

Verlag:

Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan US 2014. XIII, 201 S. Geb. EUR 85,59. ISBN 978-1-137-32685-0.

Rezensent:

Susanne Luther

»The present time and context call for a radical rethinking of theo-logical hermeneutics« (4). Dieser Appell ist der Ausgangspunkt der Monographie von Marion Grau, Associate Professor of Theology at the Church Divinitiy School of the Pacific and Graduate Theological Union (Berkeley/USA), die als »a kind of manifesto« zu lesen ist, das einen Neuansatz in der theologischen Hermeneutik fordert, denn »[e]ach new generation and context requires a certain degree of re-imagination of a hermeneutics of the sacred« (8). Die These verbirgt sich im Untertitel: Durch eine Betrachtung von Funktion und Anliegen der Figuren Hermes, Trickster und (Holy) Fool sollen neue Zu?gänge zu einer zeitgemäßen theologischen Hermeneutik eröffnet werden.
Kapitel 1, »Unsealing Hermeneutics« (1–34), legt die Grundlagen für den hermeneutischen Entwurf und bietet eine Definition: »Theological hermeneutics […] has aspects of the art and skill of negotiating exchanges, connections, and differences (and presences/ absences) between and among God/s and humans, between cultures, times, places, ecosystems, and so forth. Thus, I propose that hermeneutics describes polymorphic acts of interpretation« (6). G. sieht das hermeneutische Bestreben als einen Prozess des »pattern recogni-tion«, das Erkennen einer Vielzahl wiederkehrender »patterns of meaning making« (6); sie betrachtet es als Aufgabe der theologischen Hermeneutik, »hermeneutical functions in […] trickster fi-gures« zu erkennen »in order to expand the repertoire and understanding of interpretive patterns« (6). Davon ausgehend fordert sie »forms of theological discourse that can creatively rearticulate Christian theological narrative with an awareness of, and in conversation with, other religious claims and narratives, thus moving t owards polydox, interreligious, and transcultural discursivity« (12). »Polydoxy« bezeichnet einen additiven, inklusiven Ansatz und fordert eine »intersectional methodology, engaging a variety of disciplines, perspectives, and discourses« (22) sowie die Berücksichtigung von multiplicity, multifacetedness, hybridity und polyphony.
Kapitel 2, »Theological Hermeneutics as Pattern Recognition« (35–58), führt drei Beispiele für pattern recognition aus dem Bereich der kolonialen Interpretationspraktiken an: Hernan Cortés’ Übersetzerin La Malinche im Kontext der spanischen Eroberung Mexikos; die deutsche Identität im 19. Jh. in Relation zur jüdischen kosmopolitischen Kultur und die Konstruktion einer arischen Identität anhand religiöser Texte aus Indien; und Saba Mahmoods Reaktion auf die Forderung einer historisch-kritischen Koranhermeneutik in den USA.
Kapitel 3, »Logos, Mythos, and Mysticism« (59–78), beschäftigt sich mit einem Aspekt der Hermeneutikgeschichte, der insbesondere westliche hermeneutische Ansätze grundlegend geprägt hat: die Opposition der Konzepte »Mythos« und »Logos«. Ein kurzer Überblick über die Verwendung der Begriffe in der Geschichte verweist auf terminologische wie inhaltliche Differenzen. Daher richtet G. den Blick auf das Zusammenspiel beider Konzepte und schlägt vor, durch Anleihen aus der Mystik eine polydoxe theologische Hermeneutik zu gestalten.
Kapitel 4, »Putting Hermes Back into Hermeneutics« (79–103), »attempts a re-mythologization of theological hermeneutics by way of remythologizing Hermes« (79), d. h. »Hermeneutik« wird – durch einen Einblick in die Entwicklung des Begriffs sowie in die Wirkungsgeschichte des griechischen Botengottes – von der ab?strakten terminologischen Ebene auf die Ebene der mit Hermes verbundenen Mythen zurückgeführt. Indem Hermes als »trickster« und »traveler between worlds, languages, religions, currencies, a trader, traitor, and translator« (79) wahrgenommen wird, als »a cipher for ambivalence, if not polyvalence, marking the spaces of indeterminacy in meaning making« (88), wird die Figur als Modell dafür angeführt, dass theologische Hermeneutik die Möglichkeit vielfältiger gültiger und sinnstiftender Interpretationen nutzen und dadurch eine Offenheit für unterschiedliche Meinungen und Weltbilder schaffen kann.
Kapitel 5, »The Trickster as Hermeneut« (105–142), richtet den Fokus auf die Figur des ›Trickster‹ im hermeneutischen Geschehen. G. betont die Funktion des herausfordernden, ambivalenten Interpretationshandelns dieser Figur, durch das etablierte Systeme ins Wanken gebracht, Regeln gebrochen und ethische Forderungen hinterfragt werden, und das zugleich der unumgänglichen Polyvalenz jeder Interpretationshandlung Rechnung trägt und dadurch neue Perspektiven des Verstehens eröffnet. Somit wird Trickster-Figuren Modellcharakter zuerkannt, da sie den Hermeneuten anleiten, herkömmliche Interpretationsmuster und hermeneutische Strukturen infrage zu stellen.
Kapitel 6, »Fool’s Errand: Holy Fools and Divine Folly as Hermeneutical Figures« (143–162), lotet das Spektrum des »Narren« aus – vom Dorfnarren, über die »Heilige Einfalt« bis zum Hofnarren, vom hermeneutischen Topos zur Manifestation des Heiligen. Narren haben die Funktion, die Wahrnehmung des Publikums zu schärfen, ihnen den Spiegel vorzuhalten, sie dürfen die Wahrheit aussprechen oder durch Umkehrung ungewohnte Perspektiven schaffen – sie gelten als »hermeneutical artists« (150). Für die theologische Hermeneutik ergibt sich daraus die Fragestellung: »Where is that foolish hermeneutic necessary for the discernment and ar-ticulation of holiness, for witnessing a God so often hidden, whose messengers are many, and whose messages we continue to assess, ponder, and divine?« (158)
Kapitel 7, »Refraiming Mythos and Logos: Theology as Mytho-Logy« (163–185), fordert die Anerkennung einer interaktiven Dualität der Konzepte »Mythos« und »Logos«. Dies führt zu der theo-logischen Herausforderung einer »remythologization, that is, a re?articulation of mythological layers of meaning of the world« (164), die als polydoxe hermeneutische Strategie fungiert, denn wird Theologie in Form von Mythos neu erzählt, so können unterschiedliche Formen von Wissen und multiple Erfahrungsebenen, die narrative Konstitution des Menschen sowie die im Mythos enthaltene nar-rative Wahrheit einbezogen und zugleich eingleisige oder endgültige Interpretationen vermieden werden.
Kapitel 8, »Reframing Theological Hermeneutics« (187–192), bietet einen zusammenfassenden Rückblick über die Argumentation für eine polydoxe theologische Hermeneutik, die als »polymorphic acts of interpretation« verstanden wird (191), und weist auf einige Herausforderungen des Ansatzes hin.
Die Monographie stellt einen Entwurf vor, der Auslegungstraditionen von der Antike bis in die Gegenwart, neueste Entwicklungen in den benachbarten Wissenschaftsfeldern wie den Literatur- und Geschichtswissenschaften sowie die aktuelle Situation des Interpreten in der Welt unter der Perspektive einer polydoxen theologischen Hermeneutik bündelt. An diesem Punkt entwickelt sich der Entwurf selbst zu einer Trickster-Figur, die dem Leser diese (für sich nicht unbekannten) Felder unter einer neuen Perspektive präsentiert und dadurch den Status quo der Hermeneutik des Lesers hinterfragt. Einer derartigen Herausforderung bedarf es immer wieder von Neuem und es steht zu hoffen, dass durch diesen anregenden und engagierten Entwurf das Anliegen des »Hermeneuten«, des Trickster und des Fool, im hermeneutischen Bestreben des Lesers reflektiert wird und konkrete Beispiele für mögliche Formen der Umsetzung hervorbringt.