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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

115–117

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Drilo, Kazimir, u. Axel Hutter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VI, 261 S. = Collegium Metaphysicum, 10. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-153757-8.

Rezensent:

Andreas Arndt

Hegels Begriff der Vorstellung hat in der Hegel-Forschung lange Zeit wenig Aufmerksamkeit gefunden, weil er – als verbindende Stufe zwischen Anschauung und Begriff – eher in den Vorhof des eigentlichen Hegel’schen Denkens, das den Begriff ins Zentrum stellt, zu gehören schien. Der Titel des vorliegenden Bandes, dessen Beiträge auf eine 2012 durchgeführte Tagung an der LMU München zurückgehen, signalisiert schon den Einspruch gegen diese Auffassung: Die Vorstellung, so der Grundkonsens aller Beiträge, ist integrales Moment im systematischen Vollzug des spekulativen Denkens. Dies ist offenkundig im Sich-selbst-Erfassen des Geistes als Geist, also im absoluten Geist, der in den Gestalten der Kunst (Anschauung), der Religion (Vorstellung) und der Philosophie (Be?griff) geschichtlich zu sich kommt, wobei diese nicht sukzessiv aufeinander folgen, sondern durchgängig miteinander vermittelt sind. Entsprechend steht in systematischer Hinsicht auch die Religionsphilosophie Hegels im Zentrum mehrerer Beiträge des Bandes.
Dabei zeigt sich jedoch, dass eine isolierte Betrachtung der Religion und ihrer Zuordnung zur Vorstellungswelt nicht möglich ist, denn das Verhältnis der Religion zur Kunst einerseits und zur Philosophie andererseits weist wieder zurück auf das grundsätzliche Verhältnis von Anschauung, Vorstellung und Begriff, wie es zuerst in der Philosophie des subjektiven Geistes verhandelt wird. Hierin, in der Einbeziehung des gesamten Systemgrundrisses, wie ihn Hegel in den drei Auflagen seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817, 1827 und 1830) skizziert und in seinen Vorlesungen näher entwickelt hat (von einem vollendeten System freilich lässt sich nicht sprechen), liegt die neue Perspektive, die das vorliegende Buch vermittelt. Hierbei kann es nicht nur um den Begriff der Vorstellung allein gehen, sondern in den Blick kommen auch das Verhältnis des Erkennens, wie es im subjektiven Geist behandelt wird, zum reinen Denken in der Wissenschaft der Logik (und insbesondre zur absoluten Idee) und damit auch das Verhältnis von Logik und Realphilosophie (Philosophien der Natur und des Geistes) bei Hegel: ein ganzes »Nest« strittiger und teils auch ungeklärter Probleme der Hegel-Interpretation. Die Autoren und Herausgeber des Bandes haben sich dieser Herausforderung auf fruchtbare Weise gestellt. Die Beiträge messen das weit ge?spannte Problemfeld aus, ohne dabei die zentrale Frage nach dem Begriff der Vorstellung aus dem Blick zu verlieren, und sie präzisieren und klären diesen Begriff in einer systematischen Perspektive, die neue Einsichten in den inneren Zusammenhang des Systemgrundrisses der Enzyklopädie vermittelt.
Die Spannung zwischen dem psychologischen Vorstellungsbegriff in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes einerseits zu dem mit der Religion verbundenen Vorstellungsbegriff in der Philosophie des absoluten Geistes andererseits ist Thema des Beitrags von Markus Gabriel (»Hegels Begriff der Vorstellung«, 7–27). Auf der Grundlage einer Vereinheitlichung beider Vorstellungsbegriffe will Gabriel zeigen, dass die Religion, wie er Hegel interpretiert, keineswegs als Metapher des Begriffs gelten könne, sondern Religion nur »sein Name für die allgemeine Einstellung der Allegorese selbst, das heißt Philosophie in der Form der Vorstellung« sei (9). – Rainer Schäfer (»Von der Vorstellung zum Gedanken und zurück? Namen, Gedächtnis und Denken in Hegels Psychologie«, 29–51) wendet sich dann der psychologischen Bestimmung des Verhältnisses von Vorstellung und Denken zu, wobei er energisch dafür plädiert, beide nicht gegeneinander zu isolieren. Zum einen, so seine These, sei Hegels Psychologie »angewandte Logik« (41) im Sinne des reinen Denkens, also der Wissenschaft der Logik, zum anderen kehre die Vorstellung im denkenden Erkennen wieder (vgl. 47 ff.), was an der »Hartnäckigkeit« und »Plausibilität« des Realismus liege (49). Dies verweist m. E. jedoch auf das, was Hegel gewöhnlich »Verstandeslogik« nennt, deren Verhältnis zum reinen Denken der Wissenschaft der Logik erst noch zu klären wäre.
Dieses Problem wird in dem folgenden Beitrag von Christian Georg Martin (»Semantische Bestimmtheit«, 53–83) insofern aufgenommen, als er Hegels Gegenüberstellung der »sinnlichen Verstandesweise« und des spekulativen Begriffs aufgreift. Unter Bezugnahme auf MacDowell und Brandom wird dieses Verhältnis so interpretiert, dass »produktive Widersprüche« (76) über die je?weiligen Gebrauchsweisen von Ausdrücken hinaustreiben und so geschichtlich Sinn produzieren, wobei der semantische Prozess sein telos im absoluten Geist habe, sofern dort die »Unbedingtheit geistiger Sinnproduktion« selbst Inhalt sei (80 f.). Zu fragen bleibt, ob Hegels Begriff des Widerspruchs sich auf eine Problem-Antinomie reduzieren lässt (wie Igor Narskij es bereits Anfang der 70er Jahre des 20. Jh.s vorgeschlagen hatte), denn Hegel nimmt ihn ja gerade für die Struktur des Absoluten selbst in Anspruch.
Franz Knappik (»Hegel über Vorstellung und repräsentationalen Gehalt«, 85–118) rekonstruiert das Verhältnis von Anschauung und Vorstellung unter der leitenden These, dass repräsentationaler Gehalt »nur durch eine implizite Wirksamkeit des Denkens in diesen Vermögen möglich ist« (96).
Ein im Blick auf die systematischen Zusammenhänge und für das Verständnis Hegels überhaupt grundlegender Beitrag stammt von Gunnar Hindrichs (»Kategorienrahmen und Begriffswandel. Zwischen Kant und Hegel«, 119–155). Er untersucht das Verhältnis des apriorischen »Fachwerks von Begriffen« als Kategorien, wie sie die Wissenschaft der Logik entwickelt, zur Erfahrung, zu der auch das Phänomen des Begriffswandels gehört (121). Indem die Dialektik – die absolute Idee als absolute Methode – den Begriffswandel selbst »als Kategorienrahmen« versteht (122), vermag sie der Aporie der Erfahrung – Rekonstruktion des Begriffswandels mit invarianten Kategorien – zu entgehen und deren begriffliche Ausdifferenzierung (auch in Bezug auf die Vorstellungsgehalte) zu leisten. Auch für Hegel muss das Logische sich in diesem realphilosophischen Bezug erst bewähren; ob dies, wie Hindrichs andeutet (153), eine Rückkehr zu Kants Konzeption eines regulativen Gebrauchs der Idee »erzwingt«, wäre zu diskutieren.
Auch Christoph HalbigVorstellung und Denken als epistemologische und als metaphilosophische Kategorien bei Hegel«, 157–178) argumentiert, wie Schäfer, dafür, die Vorstellung als begrifflich strukturiert zu verstehen (165). Ihre Grenze hinsichtlich des Erkennens liege darin, dass sie ihre gedankliche Bestimmtheit nicht ausdrücklich reflektiert (172).
Anton Friedrich Koch schließlich diskutiert dann das Verhältnis der Vorstellung zum absoluten Geist (179–192), das Axel Hutter (»Wahre Endlichkeit. Hegels Lehre vom absoluten Geist«, 193–208) hinsichtlich der Selbstauslegung des Endlichen im Absoluten präzisiert.
Kazimir Drilo (»Religiöse Vorstellung und philosophische Erkenntnis«, 209–229) und Jan Rohls (»Christentum und Philosophie beim späten Hegel«, 231–256) führen diesen Gedanken dann im Blick auf das religiöse Verhältnis durch. Dabei steht Drilos These, Hegel lasse die »Unverfügbarkeit« Gottes unangetastet (228), in Spannung zur methodologischen, geschichtlich-immanenten Bestimmung des Absoluten bei Hindrichs und Koch; Rohls dagegen betont – mit Hegel – gerade den freiheitsgeschichtlichen Aspekt der Religion: die Realisierung des Geistigen der Gemeinde in der Wirklichkeit des vernünftigen Staates.
Der Sammelband ist perspektivenreich und enthält wichtige und weiterführende Beiträge, die sich in erster Linie an Hegel-Spezialisten wenden. In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass die Textbasis der Interpretation sich bereits seit 2008 durch die Edition der Vorlesungsnachschriften zur Philosophie des subjektiven Geistes im Rahmen der Gesammelten Werke Hegels verändert hat, wovon in dem vorliegenden Band leider noch kein Gebrauch gemacht wurde.