Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

113–115

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dettinger, Frank

Titel/Untertitel:

Radikale Selbstbestimmung. Eine Untersuchung zum Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt, Galen Strawson und Martin Luther.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VIII, 280 S. = Collegium Metaphysicum, 12. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-153847-6.

Rezensent:

Karin Scheiber

Die von Friedrich Hermanni betreute Tübinger Dissertation von Frank Dettinger nimmt sich der Frage an, ob radikale Selbstbestimmung überhaupt möglich und für das Freiheitsverständnis relevant sei. »Radikale Selbstbestimmung« wird dabei als »das Vermögen eines Handlungssubjekts verstanden, seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit, aus welcher die Gründe und Ursachen seiner Entscheidungen und Handlungen resultieren, in einem unabhängigen Akt frei zu bestimmen« (1).
D. geht die Frage so an, dass er zuerst zwei Ansätze der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte detailliert vorstellt. Während sich Harry Frankfurt und Galen Strawson darin einig sind, dass radikale Selbstbestimmung nicht möglich ist, hält Frankfurt sie für die Freiheitsfrage für irrelevant, wohingegen Strawson sie für zentral hält und deshalb mit der Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung auch jene von Freiheit und Verantwortung verwirft.
Im ausführlichsten Teil der Arbeit nimmt sich D. dann Luthers Freiheitsverständnisses an, wie dieser es in der Heidelberger Disputation von 1518, in der Assertio von 1520 und insbesondere in De servo arbitrio (DSA) von 1525 entfaltet. D. gelangt zum Ergebnis, dass Luther die Möglichkeit von radikaler Selbstbestimmung klar ablehne, bezüglich ihrer Relevanz für das Freiheitsverständnis jedoch eine uneindeutige Haltung einnehme und »unterschiedliche, systematisch unvereinbare Argumentationsstrategien« verfolge (244). Er nehme in DSA eine Position »analog zu jener Harry Frankfurts« ein und ebenso eine »analog zu jener Galen Strawsons« (218). Letzteres dürfte umstrittener sein als Ersteres. Für den Nachweis, dass Luther (auch) von der Relevanz der radikalen Selbstbestimmung für die Freiheit ausgehe, stützt sich D. insbesondere auf zwei Dinge: Zum einen verweist D. darauf, dass nach Luther ein Freiheitsverständnis, das von einem unabhängigen Selbst des Menschen ausgeht, dem gängigen Sprachgebrauch entspreche, zum anderen führt er Stellen aus DSA an, die davon handeln, dass der Mensch Gott zum Vorwurf macht, für etwas verurteilt zu werden, das er selbst gar nicht ändern konnte. D.s Interpretation zufolge zeigen diese Stellen »in eindeutiger Weise, dass Luther Verantwortlichkeit an die Möglichkeit und Wirklichkeit des freien Willensvermögens und damit an radikale Selbstbestimmung geknüpft versteht« (240). So eindeutig ist dies indes nicht. Die von ihm zitierten Passagen lassen sich auch dahingehend lesen, dass Luther einräumt, das Fehlen von radikaler Selbstbestimmung scheine Verantwortung auszuschließen, dies sei jedoch Folge der Eingeschränktheit unseres Erkenntnisvermögens, welche erst im Eschaton aufgehoben wird.
Nach dieser rund 250 Seiten umfassenden Darstellung des Freiheitsverständnisses von Frankfurt, Strawson und Luther be?schließt D. seine Arbeit mit einem »Ausblick« zur Frage: »Was ist im lumen gloriae zu erwarten?« Auf diesen knapp 14 Seiten widmet er sich der positiven Frage, »von welcher Art ein angemessenes Freiheitsverständnis beschaffen sein muss bzw. welches Freiheitsverständnis sich eschatologisch als richtig herausstellen könnte« (249). Diesem Vorhaben haftet etwas Paradoxales an, mutet es sich doch nichts weniger als einen Vorgriff auf das Eschaton zu. Die folgende Aussage macht die Sache nicht wirklich besser – sie mag als Relativierung des Anspruchs gedacht sein, enthüllt jedoch ein theologisch fragwürdiges Verständnis des Verhältnisses von Letztem und Vorletztem:
»Doch lässt sich vielleicht ein erster, freilich irdischer Zwischenschritt auf dem Weg in Richtung Eschaton gehen. Dieser Schritt vermag womöglich einen Beitrag dazu leisten, die Hoffnung auf das lumen gloriae in gewisser Weise zu bestärken, indem, gänzliche Ratlosigkeit überwindend, eine Idee des eigentlichen, eschatologisch erwartbaren Freiheitsverständnisses skizziert und damit verbundene Zurechenbarkeit in angemessener Weise bereits unter irdischen Bedingungen begründet werden kann.« (251)
Worin besteht nun also dieses »eigentliche, eschatologisch erwartbare Freiheitsverständnis«? Nach Zurückweisung aller anderen Möglichkeiten kommt D. zum Schluss, die radikale Selbstbestimmung des Menschen müsse darin sowohl als möglich wie auch als relevant gedacht werden. Die Idee der Möglichkeit und Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung des Menschen zieht jedoch gravierende theologische Probleme nach sich – zum einen wird die radikale Selbstbestimmung als göttliche Eigenschaft gesehen, deren Anmaßung durch den Menschen gerade Wesensmerkmal seiner Sündhaftigkeit ist, zum anderen kann durch die radikale Selbstbestimmung zwar vielleicht die Zurechenbarkeit der Verdammung gewonnen werden, dann würde dies aber auch für die Zurechenbarkeit der Erlösung gelten und Rechtfertigung wäre nicht mehr sola gratia (253 f.). D. kommt daher zu einem revidierten Verständnis dessen, was unter radikaler Selbstbestimmung zu verstehen sei: nicht mehr »die Fähigkeit, im ontologischen Verständnis causa sui zu sein« (254), sondern »die Identifikation eines Handlungssubjekts mit seiner Entscheidung bzw. Handlung […] aufgrund einer Art unausweichlicher, menschlicher radikaler Selbstbestimmung« (255). Was heißt das? D. verweist dazu knapp auf Sartres berühmtes Diktum, »daß ich dazu verurteilt bin, vollständig für mich selbst verantwortlich zu sein« (256), und auf Hermannis Theorie der subjektiven und objektiven Unhintergehbarkeit des Selbst. Hier tut sich nun eine ganze Reihe von weiteren Fragen und Problemen auf, die unter Postulierung der Plausibilität (258) und Schlüssigkeit (259) der Deutung jedoch nicht angegangen werden.
Das Vorgehen, während der ganzen Arbeit mit dem eingangs zitierten Begriff von radikaler Selbstbestimmung zu operieren, um dann auf den letzten Seiten einen neuen, durchaus klärungsbedürftigen Begriff einzuführen, der den Ausweg garantieren soll, ist methodisch unglücklich und lässt die ganze vorangegangene sorgfältige und kritische Auseinandersetzung zu einem Scheingefecht verkommen. Problematisch ist auch der angemaßte Vorgriff auf die Erkenntnis im lumen gloriae, geht doch damit eine Immunisierung gegenüber allfälliger Kritik und implizit eine theologische Diskreditierung jener einher, die sich von dem knapp umrissenen Freiheitsverständnis nicht überzeugen lassen: »Dass dieses Freiheitsverständnis letztlich noch eschatologisch verborgen bleibt und Luther in seiner These über die Notwendigkeit der Hoffnung auf das lumen gloriae Recht zu geben ist, zeigt sich nun darin, dass die hier entfaltete Deutung von Freiheit als unausweichliche, menschliche radikale Selbstbestimmung wohl kaum eine nachhaltige Auswirkung auf die Freiheitsdebatte ausüben wird.« (261)
Wer eine Einführung in das Freiheitsverständnis von Frankfurt, Strawson und (mit Vorbehalten) Luther sucht, kann mit Gewinn zu dieser Arbeit greifen. Die Darstellung lässt sich gut lesen, ist einsichtig strukturiert und zeugt von analytischer Klarheit. Trotz er?heblichem Detailreichtum verliert D. die zentrale Fragestellung nie aus den Augen und navigiert die Leserin sicher durch die vielfältigen Klippen der Freiheitsthematik. Wer sich darüber hinaus eine Antwort oder substanzielle Anregung für die theologische Frage erhofft, wie menschliche Freiheit zu denken ist, damit sowohl die menschliche Verantwortung als auch die Rechtfertigung sola gratia gewahrt bleiben, wird vermutlich etwas ratlos zurückbleiben.