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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

111–113

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brock, Eike

Titel/Untertitel:

Nietzsche und der Nihilismus.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XIII, 438 S. = Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, 68. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-031798-5.

Rezensent:

Renate Reschke

»Meines Erachtens kann man Nietzsches Philosophie als die ständige Suche nach einem neuen Gegenmittel gegen die Krankheit ›Nihilismus‹ begreifen, das seinerseits nicht auch wieder nihilistisch konterminiert ist« (218). So formuliert Eike Brock seine Bestimmung von Nietzsches Nihilismus-Konzept im Kontext einer genauen werkgenetischen Darstellung und Analyse der lebenslangen Auseinandersetzung des Philosophen mit dem Thema einer grundlegend nihilistisch verfassten Kultur seit der europäischen Aufklärung und dem Sieg der Massen- und Maschinenkultur in der Moderne seit der Mitte des 19. Jh.s. Der zitierte Satz aus der umfangreichen Studie (überarbeitete Fassung seiner 2012 an der Universität Würzburg angenommenen philosophischen Dissertation) faltet das Spektrum auf, das Nietzsches Denken von der Geburt der Tragödie bis zu Ecce homo und den späten Nachlassaufzeichnungen umfasst. Es macht deutlich, dass der Philosoph im Aufkommen des Nihilismus und seiner konkreten Erscheinungsformen die entscheidende kulturelle Veränderung im Lebens- und Wertehaushalt sowohl jedes Einzelnen wie auch ganzer Gesellschaften ist, für die Umgangsstrategien im Leben und in der (bzw. durch die) philosophische Reflexion zu finden sind. B. reklamiert mit Recht für sich, dass seine Auffassung dessen, was Nihilismus be?deutet, einer unerlässlichen Aufweitung des Begriff- und Inhaltlichen bedarf, um Nietzsche in der Komplexität seines Philosophierens am Leitfaden der Nihilismus-Frage gerecht zu werden resp. kongenial nahezukommen. Diese Aufweitung besteht darin, das Problem nicht nur als kulturelles, anthropologisches, werteorientiertes oder philosophieimmanentes zu sehen, sondern als mehrschichtig verwobenes Netzwerk mit ausdrücklicher Akzentverlagerung auf ein Surplus dieser einzelnen Dimensionen zugunsten einer radikal auf den Menschen bezogenen und von ihm ausgehenden Bestimmung: »Wir sind als Menschen prinzipiell vom Nihilismus angefochten« (10), so B.s generelle These. Eine These, die innerhalb der Nietzsche-Forschung ihren berechtigten blickerweiternden Platz behaupten kann, zumal sie argumentativ nachvollziehbar dargestellt wird.
In zehn Kapiteln greift B. bisherige philosophiegeschichtlich für die Nietzsche-Rezeption »klassische« Interpretationsvorschläge (K. Jaspers, M. Heidegger, K. Nishitani, A. Camus) und aktuelle Positionen (u. a. E. Düsing, W. Müller-Lauter, W. Stegmaier) auf und sondiert sie sorgfältig in Hinsicht auf ihr Nihilismus- und Nietzsche-Verständnis. Nicht um sich von ihnen zu distanzieren oder ihnen unbesehen zu folgen, sondern um den Standort der eigenen Position eindrücklicher zu verorten.
Im Zentrum seiner Analyse stehen die Themen, die den Philosophen umtreiben und ihn nach immer genaueren Bestimmungen und Gründen des Nihilismus suchen lassen. B. will in die Tiefenperspektive dieser Gedanken vordringen, um ihnen abzuringen, was Nietzsche am grundlegendsten interessiert habe: wie sehr der Mensch quasi per definitionem auf Selbstbestimmung hin angelegt sei, d. h. historisch unterschiedlich den Sinn des Lebens für sich zu formulieren und danach zu leben. Und dabei allen äußeren und mentalen Umständen zum Trotz die Kräfte aus sich entwickeln muss, diesen »Sinn« nicht nur zu formulieren, sondern ihn auch aktiv zu gestalten.
In der Geburt der Tragödie umschreiben das Dionysische und Apollinische das Zusammenspiel der Gegensätze in der antiken Kultur und Kunst und sind in ihrer Dialektik der Garant, über das Entsetzliche des Daseins durch Rausch und Schein lebenserhaltend hinwegzutäuschen – und dem Satz des Silen, das Beste, nicht geboren zu sein, könne der Mensch nicht erreichen, nur das Zweitbeste, früh zu sterben, widerstehen zu können. Der Bruch zugunsten des Apollinischen und Sokratischen, der Siegeszug des theoretischen Menschen und seiner Kultur habe einen leichtfertigen, aber wirkmächtigen Optimismus hervorgebracht, der dem Menschen die Illusion einer Macht des Intellektuell-Rationalen gegeben und vom Problematischen seiner Existenz entfernt habe. Auch das Christentum habe mit der Bereitstellung seines Erlösungsversprechens in Gott und im Jenseitigen dem Menschen nur ein trügerisches Angebot gemacht, das allerdings seine Wirkung auf die Schwachen und deren Ressentimentgelüste gegenüber den Starken nicht verfehlt habe. B. nutzt diese Darstellung Nietzsches, um im Christentum selbst die Sargnägel seines Niedergangs zu aufzuzeigen und es in seiner nihilistischen Grundhaltung zu demaskieren. Um zur Erkenntnis des tollen Menschen im Aph. 125 der Fröhlichen Wissenschaft zu führen, Gott sei nicht nur tot (eine Behauptung, die seit der Aufklärung kein Aufsehen mehr macht), sondern der Mensch selbst sein Mörder. Darin ist Nietzsche einzigartig. B. folgt ihm, was die katastrophalen Folgen dieses Ereignisses für die nihilistische Verfasstheit der Moderne bedeuten, und fragt, was die Menschen, denen der tolle Mensch die Neuigkeit entgegenschreit, zu ihrer Ungläubigkeit, zu Spott und Überheblichkeit veranlasst, angesichts der aufkommenden Gewissheit, ihren Mittelpunkt verloren zu haben und rettungslos der Sinnlosigkeit ihres Daseins überantwortet zu sein. Sie seien darauf nicht vorbereitet gewesen, das Ereignis kam zu früh. Diese Antwort führt B. zu Zarathustras Ideal vom Übermenschen als Überwinder des Nihilismus und zur umstrittenen ewigen Wiederkehr des Gleichen mit einem rigorosen Plädoyer für einen neuen Menschen-Sinn, für eine große antinihilistische (antichristliche) Diesseits-Verbundenheit des Menschen, die sich vor allem in den späten Nachlass-Notizen mit einer energischen dionysischen Leibphilosophie verbindet. Sie gipfelt in der Vorstellung vom amor fati, die einzig wirkliche Möglichkeit gegen den Nihilismus sei eine rückhaltlose Anerkennung des Menschen und der Welt, so wie sie sind. Es komme allein auf das »Nichts-anders-haben-Wollen« an, das vom Nihilismus, der über das Leben richtet, »weil es nicht so ist, wie er es will« (385), unterscheidet und über ihn das Urteil spricht. Nietzsches ganzes Philosophieren, so B. als Fazit, habe darauf gezielt, dem Menschen philosophisch diese seine Besonderheit und seine Fähigkeit dazu zu begründen und wertebildend an die Hand zu geben.
Im zehnten Kapitel richtet B. abschließend einen Blick auf gegenwärtige kulturelle Befindlichkeiten des modernen Menschen unter den Stichworten Technisierung, Wettbewerbsgesellschaft, Zeitnot, Depression und große Müdigkeit und findet Nietzsches grundlegende Kritik an der modernen Kultur, eine nihilistische zu sein, eskalierend bestätigt. Sie entlasse den Menschen nicht aus der Umklammerung seiner Verkleinerung und Reduzierung darauf, sich einzig als reaktiv zu verstehen, sich nicht aus der Situation einer umfassenden Abhängigkeit und permanenten Überforderung befreien, sich in ihr nur ergeben zu können. Ein deutliches Akzentuieren psychiatrischer Befunde, die zwar kulturkritisch un?terlegt sind, dies aber abschwächen, geht allerdings hinter Nietzsche und die Komplexität des Themas zurück. Dies schmälert jedoch nicht den Wert der vorgelegten Studie, die ausdrücklich zur Lektüre empfohlen wird. In einem weiteren Projekt B.s (Universität Hannover), wo, um die Befindlichkeiten des Menschen in der Spätmoderne zu diskutieren, Literatur und Philosophie miteinander ins Gespräch gebracht werden, gehört Nietzsche zu den impulsgebenden Dialogpartnern und Fürsprechern im Geiste.