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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

105–108

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Korth, Hans-Otto, u. Wolfgang Miersemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johann Crüger: Praxis pietatis melica. Edition und Dokumentation der Werkgeschichte. Bd. I/1: Johann Crüger: Praxis pietatis melica. Editio X. (Berlin 1661). Text. Hrsg. im Auftrag der Franckeschen Stiftungen zu Halle unter Mitarbeit v. M. Richter.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. 504 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-447-10260-5.Bd. I/2: Johann Crüger: Praxis pietatis melica. Editio X. (Berlin 1661): Apparat. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. 464 S. m. 6 Abb. Geb. EUR 118,00. ISBN 978-3-447-10261-2.

Rezensent:

Ute Poetzsch

Mit der Edition von Johann Crügers »Praxis pietatis melica« wird eine empfindliche Lücke geschlossen, denn der allgemeinen Bekanntheit des Titels und dem Wissen um die Bedeutung des Werkes stehen bislang eine geringere Kenntnis des Ganzen im Detail, aber auch seiner Geschichte entgegen. Dabei entstammen der »Praxis pietatis melica« einige der bekanntesten Liedmelodien aus dem 17. Jh., die vor allem im 18. Jh. zu besonderer Popularität gelangten wie »Jesu, mein Freude«, »Du, o schönes Weltgebäude« oder »Schmücke dich, o liebe Seele«, aber auch viele Melodien zu Liedern Paul Gerhardts. Melodien Crügers sind noch heute vielfach in Gesangbüchern vertreten. Doch erschöpft sich die Bedeutung der »Praxis pietatis melica« nicht allein darin. Denn eine »Übung der Gottseligkeit« mittels »christlicher und trostreicher Gesänge«, wie es im Titel heißt – also eine Sammlung von geistlichen Liedern, die zu einem großen Teil mit Melodien und Sätzen versehen sind und die nach ihrem ersten Erscheinen in mehr als 100 Jahren immer wieder aufgelegt wurde, führt auch tief in die (lutherische) Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jh.s, die bis in das 18. Jh. hinein wirkte.
Nach Lehr- und Wanderjahren, die ihn bis nach Venedig führten, gelangte der 1598 in der Nähe von Guben in der Niederlausitz geborene Johann Crüger 1615 nach Berlin, wo er sich einerseits weiterbildete, andererseits eine erste Stelle als Hauslehrer annahm. Ab 1622 bis zu seinem Tod im Jahr 1662 war er als »Director musices« an der Berliner Hauptkirche St. Nikolai und als Kantor am Gymnasium zum Grauen Kloster tätig. Aus diesen Arbeitsgebieten entstand dann auch eine Reihe von Publikationen. Crüger gehörte zudem zu den Kantoren, die sich nicht nur als Organisatoren der gottesdienstlichen und schulischen Musik verstanden, sondern auch als Komponisten. Zu seinen Kompositionen gehören zwei Sammlungen Magnificat-Vertonungen, Gelegenheitswerke, vokal-instrumentale Liedbearbeitungen und Liedsätze, teilweise zu eigenen Melodien. Seine ungedruckten Vokalconcerti sind wohl nicht erhalten. Crügers erste, noch nicht »Praxis pietatis melica« genannte Ausgabe der Sammlung geistlicher Lieder mit Melodien und Basso continuo erschien 1640, den bekannten Titel trägt sie seit der zweiten Auflage.
Die Edition ist Gegenstand und Ergebnis eines von den Franckeschen Stiftungen getragenen DFG-Projektes, das an das abgeschlossene Projekt der editorischen Erschließung des Freylinghausen-Gesangbuchs anschloss. Die Herausgeber sind in der Liededi-tion erfahren – Wolfgang Miersemann als Germanist bei der Freylinghausen-Edition, Hans-Otto Korth als langjähriger Editor bei der Edition des deutschen Kirchenlieds, als Dritter im Bunde kam der Musikwissenschaftler Maik Richter dazu. Dabei fußten die Arbeiten auf den grundlegenden Forschungen von Christian Bunners zu Johann Crüger, der »Praxis pietatis melica« und zu Paul Gerhardt, worauf auch dezidiert hingewiesen wird.
Die Edition ist auf drei Bände angelegt, wovon mit den beiden ersten Teilen des ersten Bandes nun das erste Ergebnis vorliegt. Der erste Teilband enthält die Edition der Lieder mit den sie umgebenden Worttexten und den Registern. Der zweite Teilband enthält den mehrgliedrigen kritischen Apparat. Als dritter Teil des ersten Bandes folgt die Edition der Berliner Ausgabe von 1661 des »Gebätbüchleins« von Johann Habermanns. Der zweite Band, wieder aufgeteilt in zwei Teilbände, wird einerseits die Bibliographie und Dokumente zur Werkgeschichte der »Praxis pietatis melica«, andererseits die Übersicht über die Entwicklung des Liedbestandes enthalten.
Als Hauptquelle für die Edition wurde die sogenannte »Editio X.« und damit die zehnte Auflage der »Praxis pietatis melica« gewählt. Denn sie ist mit insgesamt 550 Liedtexten (90 davon von Paul Gerhardt) und 227 »musikalischen Sätzen« die reichhaltigste Ausgabe (I/2, 35). Außerdem handelt es sich um die letzte Ausgabe, die zu Lebzeiten Crügers erschien und die er noch selbst besorgt hat. Mehr noch, sie kann als »gesangbuchgeschichtliches Vermächtnis des Berliner Nikolaikantors« angesehen (I/2, 35) und damit quasi als »Ausgabe letzter Hand« betrachtet (I/2, 37) werden, andere von Crüger betreute Ausgaben gelten damit als »Fassungen«. Die »Praxis pietatis melica« wird also als »Werk« betrachtet, in dem sich der Wille eines Herausgebers manifestiert, der dem eines Autors vergleichbar ist – zumal Crüger ja auch tatsächlich Verfasser einer Reihe der abgedruckten Melodien und der Bearbeiter aller enthaltenen Sätze ist. Offensichtlich strebte Crüger eine Konsis?tenz an, die sich auch darin äußert, dass er z. B. für ohne Melodien mitgeteilte Texte nur auf Melodien verweist, die im vorliegenden Buch enthalten sind (I/2, 36).
Die Editionsvorlage (EV) wird aus zwei unterschiedlichen, nicht von denselben Druckstöcken hergestellten Exemplaren aus dem Jahr 1661 gebildet, von denen eins in der Staatsbibliothek zu Berlin (EVb) und das andere in der Biblioteca Strahoviensis in Prag (EVp) aufbewahrt wird. Dabei hat das Berliner Exemplar das größere Gewicht, die Eintragungen in den Einzelanmerkungen des Kritischen Berichts beziehen sich also zuerst darauf. Um die Entwicklung des Liedbestandes zeigen zu können, wurden frühere Ausgaben ab 1640 (chronologisch sigliert von A bis F) herangezogen. Berücksichtigt wurden punktuell weitere im 17. Jh. erschienene Ausgaben.
Teilband I/1 umfasst den vollständigen Text der Editionsvorlage, also alle 550 Lieder, darunter die 227 mit einem (bezifferten) Bass versehenen Melodien, sowie die enthaltenen Worttexte (Titel, Dedikationsvorrede, zwei Register, Nachbemerkung des Verlegers Chris-toph Runge) in der originalen Anordnung. Dabei folgt die Edition so weit wie möglich der Darstellungsform der Vorlage. Die Noten wurden damit nicht künstlich in ein modernes Notenbild gepresst – der der Melodie vorgezeichnete Sopranschlüssel, die Mensurzeichen und die originalen Notenformen wurden beibehalten. Ebenso unterblieb sinnvollerweise die Ergänzung von Taktstrichen. Durch diese begrüßenswerten Entscheidungen bleibt der sehr klare Edierte Text nah am Original, was zudem eine von interpretierenden Vorgaben weitgehend freie Benutzung ermöglicht. Eingefügt wurde die in der Vorlage (aus drucktechnischen Gründen) nicht vorhandene Generalbassbezifferung, die aus der nächsten früheren Ausgabe von 1660 (F) entnommen wurde, gelegentlich ergänzt durch Ziffern aus der folgenden von 1664 (G); freie Ergänzungen gibt es nicht. Der Melodiestimme wurde jeweils die erste Strophe unterlegt.
Die Frakturschrift der Worttexte wurde bei weitgehend beibehaltener Orthographie in Antiqua umgesetzt, original lateinische Schrift (etwa bei der Nennung der Verfasser) erscheint in serifenloser Type. Abbreviaturen wurden aufgelöst und Umlaute in der heutigen Form wiedergegeben. In die Interpunktion wurde »be?hutsam« eingegriffen und etwa Virgeln ergänzt, um einem »Gebot der Verständlichkeit« (I/2, 48) zu genügen; die Texte sind grundsätzlich in Versform wiedergegeben. Eingefügt wurden Zähler für die Noten wie auch Zeilenzähler für die Texte. Zeilenumbrüche werden sowohl bei den Noten als auch bei den Texten (diese stimmen in der Vorlage nicht immer überein) angegeben. Im laufenden Text werden in eckiger Klammer außerdem die originalen Paginierungen und Blattsignaturen mitgeteilt.
Teilband II/2 enthält eine Vorwort genannte Kurzeinführung in das Projekt, Erläuterungen zum Werk, Kommentare und Erklärungen zu den Worttexten und die detaillierten Einträge zu den einzelnen Liedern, die oft durch liedgeschichtliche Kommentare ergänzt werden. Ein Register verzeichnet alle in den älteren Ausgaben der »Praxis pietatis melica« bzw. in den herangezogenen Ausgaben vorhandenen Lieder. Zusätzlich werden hier die in der »Editio X« nicht mehr enthaltenen Texte und Melodien bzw. abweichende Fassungen älterer Ausgaben abgedruckt und, geordnet nach den Ausgaben, kommentiert. Schließlich werden Bezüge zu Crügers reformiertem Gesangbuch »Psalmodia sacra« hergestellt und auf Verbindungen zum verlorenen, ebenfalls bei Runge er?schienenen, Berliner Gesangbuch von 1653 hingewiesen.
Die Edition ist außerordentlich komplex angelegt und informiert, das zeigen die erschienenen Teilbände bereits, umfassend über alle nur denkbaren mit ihrem Gegenstand zusammenhängenden Aspekte. Zudem folgt sie einer, der Bedeutung des Gegenstands angemessenen, strengen inneren Logik. Die Herausgeber zeigen damit, welche Möglichkeiten klassische Methoden der Editionstechnik bereithalten und mit welcher Tiefe die einzelnen Bestandteile sowie die Gesamtheit eines gewachsenen Werkes er?schlossen werden können. Dass sich diese Möglichkeiten in einer so anspruchsvollen, repräsentativen und lesbaren Weise entfalten können, ist ein großes Verdienst des Verlages, was ausdrücklich hervorzuheben ist.