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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

103–105

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann, Kleinert, Markus, u. Magnus Schlette [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Metamorphosen des Heiligen. Struktur und Dynamik von Sakralisierung am Beispiel der Kunstreligion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XI, 443 S. = Religion und Aufklärung, 25. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-153988-6.

Rezensent:

Anne Käfer

Es sind vielgestaltige Werke aus den Bereichen der Theologie, der Philosophie, der Literatur, der Musik, der Bildenden Kunst und der Architektur, die im vorliegenden Aufsatzband daraufhin untersucht und interpretiert werden, welche Verwandlungen das Heilige in der Kunst zwischen dem 18. und dem 20. Jh. erfahren hat. Die Kollegforschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive« am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und der Arbeitsbereich »Theologie und Naturwissenschaft« an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg haben Forscherinnen und Forscher auf den Gebieten der Theologie, Philosophie, Soziologie, Literatur-, Erziehungs- und Religionswissenschaft für das überaus spannende Projekt gewinnen können, in vielfältigen Beiträgen Struktur und Dynamik von Sakralisierung am Beispiel der Kunstreligion aufzuzeigen.
Als »Begründer des Begriffs der Kunstreligion« wird Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in den »Anmerkungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Kunstreligion« bezeichnet, die vom Literaturwissenschaftler Manuel Bauer stammen (219). Auch der Mitherausgeber und Philosoph Magnus Schlette widmet sich der Hermeneutik Schleiermachers und nimmt eingehend Bezug auf dessen Redensammlung Über die Religion (243 ff.). Befremdlicherweise findet sich im vielseitigen Aufsatzband keine einzige Bezugnahme auf Schleiermachers Texte zur Ästhetik, in denen dieser ausführlich von der Beziehung zwischen Kunst und Religion handelt.
Allerdings jedoch wird die Beziehung von Religion und Kunst, wie sie in deutschen Lyrikanthologien des 19. Jh.s zu finden sei, aufschlussreich dargestellt. Der Literaturwissenschaftler Günter Häntzschel nimmt an, dass eine »Sakralisierung des Weltlichen« in den von ihm vorgestellten Lyrikanthologien einer »Säkularisierung des Heiligen« verbunden sei (261). Im Mildheimischen Liederbuch von 1815 werde in weltlichen Liedern die Übertragung der Heiligkeit Gottes auf Natur, Herz und den Menschen selbst vollzogen (Säkularisierung); dies kulminiere in der Formulierung von Johann Wilhelm Ludwig Gleim: »Ha! der Mensch, vom Hottentotten bis zum Griechen, ist ein Gott!« (261) In anderen, eher erbaulichen Gedichtsammlungen wiederum werde weltliche Lyrik geistlich vereinnahmt (Sa?kralisierung). Beispielhaft zeige dies die Herausgabe eines drei-strophigen Gedichtes von Heinrich Heine, dem die dritte Strophe ge?nommen ist und vor welchem Hebr 13,4 zitiert wird. Die mit dem Titel »Ehe ohne Liebe« versehene Textkomposition lautet: »Die Ehe soll ehrlich gehalten werden bei allen und das Ehebett unbefleckt; Hurer aber und die Ehebrecher wird Gott richten[.] Ein Jüngling liebt ein Mädchen! Die hat einen andern erwählt […]« (265).
Neben Heine kommen im vorliegenden Band unter anderem auch Thomas Bernhard, Thomas Mann, der Dadaist Hugo Ball, Hölderlin und Gotthold Ephraim Lessing ausführlich zu Wort. Der Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Braungart zu »Lessing und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts« leidet jedoch unter einem allzu großen Vielerlei. Und so kommt vor allem beim Vergleich des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15), »der selbst, aus freien Stücken, heimkehren will« (80), mit dem Freiheitsverständnis Lessings, wie es dieser nach Braungart in seiner Minna von Barnhelm entfaltet, der nötige interdisziplinäre Austausch mit der Theologie zu kurz.
Sehr empfehlenswert ist der religionsgeschichtliche Blick, den der Theologe Dietrich Korsch auf Mozarts Così fan tutte wirft. Er geht davon aus, die Metamorphose des Heiligen sei dort radikal realisiert, »wo das Innere als Hort des Heiligen zugleich als Ursprung des Heiligen verstanden wird« (128). Ob der menschlichen Liebe sakrale Ursprungsmacht zukommt, dies fragt nach Korsch die Oper Mozarts, in der auf die Treue verlobter Frauen gewettet wird. Nach Korsch, der seine Interpretation auf musikwissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut, wird in Mozarts Komposition die Frage diskutiert, ob die Liebe der verlobten Frauen und Männer aus sich heraus fähig ist, eine heilige Ordnung zu stiften, oder ob es äußerer Ordnungen bedarf, die allein die Treue der Liebe garantieren.
Neben den Komponisten Mozart, Beethoven und Wagner sind auch die Pianistin Elly Ney und Elvis Presley Thema der Metamorphosensammlung. Der Mitherausgeber und Philosoph Markus Kleinert zeigt auf, wie Ney ihre Beethovenkonzerte geradezu als Gottesdienste gestaltete, indem sie die Kunst des Komponisten unter anderem durch Rituale sakralisierte. Neys außergewöhnliche Aufführungspraxis, die insbesondere Beethovens Opus 111 betroffen habe, wird von Kleinert durch Bezugnahme auf die Verwendung dieses Werkes in Thomas Manns Doktor Faustus genauer beleuchtet. Dabei stellt Kleinert heraus, dass eine derartige Sakralisierung der Kunst nicht ungefährlich sei, zumindest dann, wenn deren Wirkmächtigkeit »auf keinen Widerstand mehr trifft, sich gegen Begründungsansprüche gar nicht erst durchzusetzen hat« (341).
Dass auch Elvis Presley mit einer Fülle von Ritualen seine späten Konzerte von 1969 bis 1977 zu durchstrukturierten Gottes-diensten stilisiert habe, davon handelt der Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering. Detering verweist auf die Wahrnehmung einer Konzertkritikerin: »Als rituelle Gabe deutet die Kritikerin der New York Times bereits in der enthusiastischen Besprechung des Konzerts im Madison Square Garden 1972 die Gabe eines benutzten Schweißtuchs an eine Zuschauerin: ›a gift of sweat from an earthy god‹.« (405) Doch, so hält Detering fest, habe Elvis, »der Priester der amerikanischen Pop-Religion« (407), im Laufe der Jahre mehr und mehr die Aufführung von Gospelsongs in seine Konzerte integriert und sollte schon deshalb nicht als ein »earthy god« angesehen werden. »Es geht nur um den Hohenpries?ter Amerikas als der ›one nation under God‹.« (407)
Sakralisierung von Kunst betrifft auch den Bereich der Architektur. Dies stellt der Soziologe Bernhard Schäfers unter anderem am Beispiel des Bayreuther Festspielhauses dar, und er zitiert hierzu den Wagner-Biographen Hans Mayer, der dieses Opernhaus als »Bayreuther Kirche« beschreibt (350). Solcherart öffentliche Repräsentation des Kunstreligiösen ist nach Schäfers auch in unserer Gegenwart von Bedeutung. »Das Kunstreligiöse lebt fort und hat schon deshalb Konjunktur, weil der weltumspannende Kapitalismus mit seiner vor keiner Umweltzerstörung zurückschreckenden Profitgier ›die andere Seite der Vernunft‹ – ein Topos der Romantik – immer aufs Neue herausfordert.« (355)
Das herausgeforderte Kunstreligiöse wird im vorliegenden Band höchst abwechslungsreich und anregend thematisiert. Doch ist die Vielfalt an lesenswerten Texten, die einzelne Metamorphosen des Heiligen betrachten, recht unverbunden dargeboten. Vermutlich ließe das Angebot einer leitenden Perspektive die Gestaltenvielfalt vertiefender reflektieren. Ein solches Angebot hätte im Anschluss an den oftmals erwähnten Schleiermacher formuliert werden können. Seine Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion, die im Zusammenhang seiner ästhetischen, theologischen und anthropologischen Einsichten deutlich wird, hätte eine Folie bieten können, vor der die Sakralisierung von Kunst und ihren Künstlerinnen und Künstlern konturenreicher hätte gestaltet und noch schärfer hätte kritisiert werden können.