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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

99–102

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Oelke, Harry, Kraus, Wolfgang, Schneider-Ludorff, Gury, Schubert, Anselm, u. Axel Töllner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martin Luthers »Judenschriften«. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 338 S. m. 3 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 64. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-55789-1.

Rezensent:

Dorothea Wendebourg

Das Buch, das im Wesentlichen auf eine 2014 in Erlangen abgehaltene Tagung zurückgeht, hat Zwittercharakter, wenn man Herausgeber, Veranlassung und Beiträge betrachtet: Es geht zurück auf die Initiative von Trägern des christlich-jüdischen Dialogs, deren zwei auch unter den Herausgebern sind, und soll diesem mit seiner spezifischen Agenda dienen. Andererseits will es wissenschaftliche Forschung zu dem im Titel genannten Thema spiegeln. Forschung ist grundsätzlich ergebnisoffen, kirchenpolitische Programme sind es nicht. Der Leser fragt sich, wie das zusammengeht. Tatsächlich bieten die Beiträge ganz überwiegend historische Informationen, teils mehr, teils weniger auf eigener Forschung der Autoren beruhend, nur einer, der von Mitherausgeber Wolfgang Kraus, gilt den kirchenpolitischen Stellungnahmen zu »Luther und die Juden«, deren Geschichte er mit klarer Tendenz und Wertung skizziert, nämlich als einen Weg, der auf die Revision wesentlicher theologischer »Paradigmata« der lutherischen Reformation hinauslaufen müsse (311). Dieses systematisch-theologische Anliegen bedienen die historischen Beiträge nicht, der einzige Systematiker unter den Referenten, Reiner Anselm, ist sogar ausgesprochen zu?rückhaltend (245). Allerdings tauchen immer wieder und ohne weitere Reflexion dogmatische Grundannahmen jenes Dialogs auf, die als Wertungen in die historischen Darstellungen einfließen, etwa über das Verhältnis von Altem und Neuem Testament oder von Kirche und Judentum. Was aber vor allem viele Beiträge durchzieht, ist die Auseinandersetzung mit Johannes Wallmann, der vor Jahren feststellte, dass Martin Luthers »Judenschriften« von 1543 seit dem Pietismus bis zum Aufstieg der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus in der Breite von Kirche und Gesellschaft kaum bekannt waren und dass sie, wo sie bekannt waren, überwiegend zugunsten seiner »Judenschrift« von 1523 zurückgewiesen wurden. Diese Sicht ist durch Aufweis von mehr Belegen einer Lektüre jener späten Schriften im 19. Jahrhundert, als Wallmann kannte, modifiziert (insbesondere durch Martin Friedrich). Im Ganzen hat sie sich aber, so kann man den vorliegenden Band bilanzieren, bestätigt.
Bedauerlich ist, dass es keinen Beitrag gibt, der dem Stellenwert von Luthers »Judenschriften« in der internationalen jüdischen Historiographie und Holocaustforschung nachgeht. Hätte ein solcher doch, mutatis mutandis, die Diagnose geringer Bekanntheit und Bedeutung der »Judenschriften« von 1543 zwischen Konfessionellem Zeitalter und völkischer Bewegung bzw. Nationalsozialismus bekräftigt. Er hätte zugleich gezeigt, dass die Verengung des Blicks in der deutschen Kirchengeschichtsschreibung auf Luther und auf seine »Judenschriften« den Mangel an Vertrautheit mit der internationalen Szene spiegelt, in der jene Schriften eine randständige Rolle spielen – Anschluss an diese Szene kann der hiesigen protestantischen Forschung, entgegen der Behauptung von Berndt Hamm (318), gerade nicht attestiert werden.
Gegliedert ist das Buch in fünf Teile – »Grundlagen«, »Von der Restauration bis zum Ende des Kaiserreiches«, »Weimarer Republik und Nationalsozialismus«, »Protestantische Diskurse nach 1945« und »Ökumene und kirchliche Politik nach 1945« –, denen zwei kommentierende »Schlussbetrachtungen« von Beobachtern der Tagung folgen. Im ersten Teil werden zwei Beiträge geboten, die für alles Weitere grundlegendes historisches Faktenmaterial liefern sollen: Volker Leppin handelt von »Luthers ›Judenschriften‹ im Spiegel der Editionen bis 1933«. Leppin ist emsig bemüht, Wallmanns Sicht zu widerlegen, bestätigt in seinem allerlei Bekanntes einmal mehr versammelnden Beitrag aber dessen Befunde, nämlich dass Luthers Judenschriften – wie sollte es anders sein! – in allen Ge?samtausgaben vorhanden waren, in der Lutherischen Orthodoxie nicht nur viel herangezogen, sondern auch in Einzelausgaben veröffentlicht wurden, dass dies bis in die Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr geschah und auch die Auswahlausgaben der Werke Luthers seine judenfeindlichen Judenschriften nicht aufnahmen, dass im 19. Jahrhundert nur »einzelne Autoren Auszüge« (32) daraus mitteilten und dass solche von den 1920er Jahren an in im?mer größerer Zahl und deutlich antisemitischer Ausrichtung erschienen. Der abschließende Quellenüberblick ist, was die Ge?samtausgaben betrifft, überflüssig, weil von jedem Interessierten leicht zusammenzutragen, und was die Einzel- und Sammelausgaben betrifft, einerseits willkürlich und äußerst lückenhaft, andererseits fehlerhaft (so sind die S. 40 angegebenen Schriften von Fischer und Sasse keine Ausgaben, sondern die eine ist ein monographisches Pamphlet mit Zitaten aus den »Judenschriften« sowie anderen Werken Luthers, die andere ein Florilegium; die Buchwald’sche Teilausgabe von Vom Schem Hamphoras u. a. wird zweimal genannt, beide Male nicht korrekt. Letzteres gilt auch für die Teilausgabe von Von den Juden und ihren Lügen). Anselm Schuberts instruktiver Beitrag, der der Rezeption von Luthers »Judenschriften« in den Lutherbiographien des 19. und 20. Jahrhunderts nachgeht, ist nüchtern an den historischen Befunden orientiert. Er zeigt, dass die Lutherbiographien bis 1980 Luthers Judenschriften nur am Rande oder gar nicht behandelten und dass von denen, die es taten, sich »keine den rassistischen oder nationalsozialistischen Antisemitismus ihrer Zeit zu eigen gemacht hat« (59). Leider weist Schuberts Text eine Reihe von Fehlern auf (Kolde war bei Weitem nicht der Erste, der im 19. Jahrhundert Luthers späten Judenschriften »die theologische Verbindlichkeit abgesprochen« hat, das taten im 19. Jahrhundert viele [50]; ursprünglicher Titel und Erscheinungsjahr von Gerhard Ritters berühmter Biographie sind falsch angegeben [65], die Druckgeschichte von Mathesius’ Lutherpredigten endete keineswegs 1917 [52], die eigentümliche Behandlung von Luthers Judenschriften in der Biographie Köstlins findet sich schon bei diesem selbst, nicht erst in der Kawerauschen Überarbeitung von 1917 [51] u. a. m.).
Im zweiten Teil bietet Martin Friedrich eine in den Einzelheiten wie im Blick auf die historische Gesamtentwicklung erhellende Skizze der Rezeption von Luthers Judenschriften in Preußen bis 1869, die zu dem oben genannten Ergebnis kommt. Hanns Christof Brennecke stellt deren Rezeption im – bayrisch-fränkischen – konfessionellen Luthertum des 19. Jahrhunderts dar; nachdem auch er Wallmanns Sicht vor allem mit dem Hinweis auf die – von diesem nie bestrittene – Präsenz von Luthers Judenschriften in den Gesamtausgaben (86) infrage gestellt hat, bestätigt er sie durch den Aufweis, dass die konfessionellen Lutheraner, meist Verfechter christlicher Judenmission, sich ganz überwiegend auf Luthers Judenschrift von 1523 beriefen und die Schriften von 1543 kritisch sahen. Es folgt Christian Wiese, der nicht zum ersten Mal, aber in der ihm eigenen Souveränität die »Liebesgeschichte« jüdischer In?tellektueller im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit Martin Luther, die dessen antijüdische Schriften wenig relevant fanden, und die antisemitische Inanspruchnahme dieser Schriften kontrastiert. Im dritten Teil zeigt Gury Schneider-Ludorff, dass es in der Theologie der Zwischenkriegszeit sehr unterschiedliche Weisen des Umgangs mit Luthers Judenschriften gab, von akademischer Nichtbeachtung über völkische und antivölkische Rezeptionen der späten Judenschriften bis hin zu dezidiert dagegengesetzter Re?zeption der Schrift von 1523. Siegfried Hermle weist nach, dass von den Exponenten der Bekennenden Kirche sich keiner zur Frage »Luther und die Juden« äußerte, zumal dessen judenfeindliche Schriften »in den 1930er Jahren wenig bekannt waren« (161f.), und führt dann Stimmen aus der »zweiten Reihe« an, die sich jene Schriften aneigneten, indem sie sie gegen deutsch-christliche und völkische Beanspruchungen zur Stärkung eigener theologischer Anliegen wie der Anerkennung der Taufe von Juden und des Alten Testaments be?nutzten, zugleich aber auch staatliche Repressionen gegen Juden dadurch legitimiert sahen. Nach Oliver Arnhold zogen die Deutschen Christen Luthers späte Judenschriften, die von ihnen allererst »wiederentdeckt« wurden (192), zunächst zu?rückhaltend, dann immer stärker zur Legitimierung ihres Antisemitismus heran, der sich selbst aus anderen Quellen speiste.
Im vierten Teil macht den Auftakt Harry Oelke mit einem informativen Überblick über die Behandlung des Tagungsthemas nach 1945. Wie er zeigt, spiegelte die Beschäftigung mit Luthers Judenschriften in Deutschland den allgemein-gesellschaftlichen Um?gang mit dem Thema Judentum. Sie setzte zögernd ein, gewann in den 1960er Jahren an Fahrt und ist mittlerweile in einer Phase differenzierter Debatten angelangt. »[U]nterbelichtet« sei die Erforschung der Wirkungsgeschichte von Luthers Judenschrift von 1523 (230). Reiner Anselm stellt fest, dass Luthers Judenschriften in der systematischen und ethischen Debatte nach 1945 keine Rolle spielten, und fordert als aus ihnen zu ziehende Lehre, »die Fragen des Zusammenlebens nicht als theologische, sondern als praktische, durch das Recht zu regelnde Fragen zu betrachten« (245). Wie Stephen Burnetts Überblick über Luthers Judenschriften in England und den USA zeigt, war dort das Interesse an diesen Schriften, die erst in jüngster Zeit oder noch gar nicht übersetzt wurden, gering und überwiegend auf wissenschaftliche Einzelfragen konzentriert. Im letzten Teil stellt – vor Wolfgang Kraus’ bereits genanntem Schlussbeitrag– Lucia Scherzberg den wesentlich »konfessionsstrategisch« bestimmten Umgang römisch-katholischer Theologen mit Luthers Judenschriften dar, der von antiprotestantischer Polemik über antisemitische Instrumentalisierung bis zu ökumenischer Zurückhaltung und sachlicher Auseinandersetzung reichte.
Stellt von den beiden abschließenden Kommentaren der des jüdischen Historikers Johannes Heils eine differenzierte Würdigung der vorangegangenen Beiträge und der Diskussion darüber dar, so kann der des früheren Erlanger Kirchenhistorikers Berndt Hamm nur Verwunderung wecken. Hamm bilanziert nüchtern, dass weder die Erweckungsbewegung noch das konfessionelle Neuluthertum, weder die jüdischen Lutherdeutungen des 19. Jahrhunderts noch die akademisch-theologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit literarisch auf Luthers »Judenschriften« von 1543 eingingen und dass es auch die Bekennende Kirche »kaum« und die Lutherbiographien des 19. und 20. Jahrhunderts »selten« taten. Doch dann heißt es: Jene Schriften seien durchaus »präsent« gewesen. Woran wird Präsenz gemessen, wenn nicht an literarischer Anwesenheit, die gerade verneint wurde? Hamm führt nicht etwa Mathesius an, sondern neben Theodor Kolde (315 f.), dessen »Auseinandersetzung« mit dem Thema gerade einmal drei Seiten seiner monumentalen Biographie umfasst, zwei römisch-katholische Luthermonographien, deren einer (Denifle) von Scherzberg zuvor geringes Interesse an dem Thema bescheinigt worden war (273); einer dritten, die er nicht anführen kann, weil sie gar nicht auf das Thema eingeht (Janssen), unterstellt Hamm tendenzbestimmtes Verschweigen (315). In dieser Weise wird auch die lange Reihe der zu Beginn bilanzierten Leerstellen erklärt. Doch gesetzt, wir könnten in die Autoren hineinsehen und es hätte sich tatsächlich immer wieder um bewusstes Verschweigen gehandelt – für die Leser, die das Verschwiegene nicht lesen konnten, waren Luthers »Judenschriften« von 1543 damit jedenfalls nicht »präsent«; das ist aber grundlegend, wenn man »Präsenz« messen will. Und so fragt sich: Haben wir hier eine Geschichtsschreibung vor uns, die nach dem Motto verfährt, dass »nicht sein kann, was nicht sein darf«? Das ist eine Frage, die für den Band als Ganzen jedenfalls nicht bejaht werden kann.
Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass das Buch eine Vielzahl von Druckfehlern enthält und das Register geringe Sorgfalt verrät.