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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

97–98

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kemper, Karl-Friedrich

Titel/Untertitel:

Religiöse Sprache zwischen Barock und Aufklärung. Katholische und protestantische Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts in ihrem theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext.

Verlag:

Nordhausen: Verlag Traugott Bautz 2015. 1044 S. = Religionsgeschichte der frühen Neuzeit, 22. Geb. EUR 160,00. ISBN 978-3-95948-067-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Dieses Buch ist ein Lebenswerk! Seinen Anstoß verdankt es dem 1970 unterbreiteten Angebot des bedeutenden Germanisten Hugo Moser, eine von ihm betreute Dissertation »zur Sprache der Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts« (13) in Angriff zu nehmen. Nachdem das Projekt seinerzeit aus familiären und beruflichen Gründen nicht zum Abschluss geführt werden konnte, hat es Karl-Friedrich Kemper seitdem sporadisch weiter beschäftigt, wo?bei sich der Interessenschwerpunkt zusehends »von der bloßen Sprachgeschichte mehr zur Frömmigkeitsgeschichte hin« (ebd.) verlagerte. Erst nach seinem Eintritt in den Ruhestand konnte K. das Werk vollenden, mit dem er von der Philosophisch-Theologischen Hochschule SVD St. Augustin dann doch noch promoviert worden ist. Gemessen an der viereinhalb Jahrzehnte umfassenden Entstehungszeit erscheint der gigantische Umfang verständlich, auch wenn er zweifellos, was zu bedauern ist, ein nicht zu unterschätzendes Rezeptionshemmnis darstellen dürfte.
Die ursprüngliche Absicht, jeweils einen katholischen und evangelischen Erbauungsschriftsteller aus der Barockzeit sowie aus der Epoche der reifen Aufklärung vergleichend gegenüberzustellen, ist erkennbar geblieben. So wendet sich K. nach ausführlicher »Einleitung« (15–41) und einer nicht minder breiten Übersicht zur »Erbauungsliteratur im 18. Jahrhundert« (42–121) zunächst den barocken Erbauungstheologen Martin von Cochem (122–215) und Benjamin Schmolck (216–268) zu, deren Beitrag er, in übrigens nahezu identischer Disposition, als tief in der jeweils eigenen konfessionell-orthodoxen Frömmigkeitstradition wurzelnd kenntlich macht, und dies nicht allein hinsichtlich des theologischen Gehalts ihrer exemplarisch untersuchten Hauptwerke, sondern zugleich auch in der Analyse der dabei gebrauchten theologischen Sprachmuster.
Ein Zwischenkapitel von seinerseits monographischem Format informiert über »Religion und Sprache unter dem Einfluss der Aufklärung« (269–530). Dabei werden, weithin in Gestalt eines gelehrten Forschungsreferats, zunächst die Umrisse der protestantischen und katholischen Aufklärungstheologie nachgezeichnet, das Erstere mit einem längeren Exkurs zur Katholizismuskritik des protestantischen Berliner Verlegers und Aufklärers Friedrich Nicolai (293–312), sodann der damals vollzogenen Anwendung des Epochenleitworts »Kritik« auf die religiöse Sprache und Frömmigkeitspraxis nachgespürt und schließlich, nun ganz auf den katholischen Sektor beschränkt, die sprachgeschichtliche Bedeutung und frömmigkeitsreformerische Leistung der religiösen Erbauungsbemühungen gewürdigt. Besonderes Interesse verdient dabei, neben sehr vielem anderen, etwa die modernitätssichernde Übernahme der ostmitteldeutschen meißnisch-obersächsischen Schriftsprache in die katholische Popularpublizistik oder das Engagement für liturgische Volkssprachlichkeit, das sich beispielsweise in der Bemühung um ein deutsches Brevier oder der muttersprachlichen Übersetzung der Messformulare niederschlug.
Der Vergleich zweier aufklärerischer Erbauungsschriftsteller setzt, anders als bei den vorgeführten Repräsentanten der Barockzeit, mit dem protestantischen Theologen Georg Joachim Zollikofer ein, dessen im ausgehenden 18. Jh. entstandene »Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen« wiederum hinsichtlich ihrer theologischen und sprachlichen Beschaffenheit sorgfältig untersucht werden. Dass sich K. erst danach dem katholischen Vergleichspartner zu?wendet, liegt neben der damit vollzogenen chiastischen Struktur, welche die evangelischen Protagonisten von den katholischen Vertretern gewissermaßen ummantelt sein lässt, auch darin be?gründet, dass K. nach einer kurzen Würdigung Thaddäus Anton Deresers zielstrebig auf den zweifellos bedeutendsten katholisch-aufklärerischen Reformtheologen Johann Michael Sailer (1751–1832) zusteuert, dessen differenzierter Darstellung das gesamte letzte Drittel des Buches gewidmet ist. Sailers »Vollständiges Lese- und Betbuch« von 1783, das bezeichnenderweise nicht wie bei Zollikofer für »Christen«, sondern lediglich »zum Gebrauche der Katholiken« bestimmt war, wird dabei nicht allein entstehungsgeschichtlich sowie inhaltlich und sprachlich-stilistisch eingehend er?hellt, sondern zugleich auch im Vergleich mit dem ihm zugeneigten Johann Caspar Lavater und der ihm gewidmeten protes?tantisch-kritischen Rezeption, namentlich durch F. Nicolai, zu?sätzlich profiliert.
Das Quellen- und Literaturverzeichnis (946–1034) ist von imponierender Breite und dokumentiert die stupende, aktuelle Gelehrsamkeit K.s. Allerdings scheint mir der besondere Wert dieses Buches weniger in den allgemeinen Feststellungen als vielmehr in deren konkreter phänomenologischer Erdung zu liegen. So wird es, um nur wenige Beispiele zu nennen, zwar kaum überraschen, dass im Zeitalter der Aufklärung die Empfindsamkeit nicht ein Gegenprogramm, sondern einen integrativen Bestandteil der rationalistischen Daseinsdeutung ausmachte, dass sich im popularreligiösen Diskurs ethische Themen in den Vordergrund schoben, dass die Gottesvorstellung nicht mehr vom Bild des strengen Richters, sondern von dem des gütigen Schöpfers dominiert war oder dass der Opfer- und Sühnetod Christi gegenüber der ihm nun zugeschriebenen Vorbildfunktion an Bedeutung verlor, wie übrigens auch die katholischen Heiligen nun weniger als soteriologische Mittler, umso mehr hingegen als nachahmenswürdige Beispiele eines exemplarischen Glaubenslebens Interesse erfuhren. Dies alles ist, wie gesagt, dem Kenner des Zeitalters durchaus nicht neu. Höchst instruktiv erscheint hingegen die von K. erbrachte Leistung, diese allgemeinen Erkenntnisse in den religiösen Erbauungsschriften der Zeit nun konkret und tiefenscharf verifizier-bar zu machen. Angesichts des großen Respekts, den die von K. erbrachte historiographische Präzisionsarbeit ohne Zweifel verdient, wäre es müßig, etwa eine Randbemerkung wie diese, die Aufklärung habe sich »im theologischen Bereich weniger auf wissenschaftlicher Ebene abgespielt«, sondern sei dort vor allem als ein »breit angelegtes Akkulturations- und Bildungsprogramm im Sinne der Volksaufklärung« (939) realisiert worden, in gelinden Zweifel zu ziehen.
Ein wesentlicher Vorzug dieser Studie besteht, ohne andere Aspekte schmälern zu wollen, gewiss darin, dass Sailer aus seinem historiographischen Schattendasein eindrücklich herausgeführt worden ist. Tatsächlich verdient dieser fromme katholische Aufklärer weit mehr Beachtung, als ihm bislang geschenkt worden ist. Insofern mutet die Anregung, das Projekt einer kritischen Ausgabe der Werke Sailers in Angriff zu nehmen, durchaus nicht, wie K. in zu großer Bescheidenheit fürchtet, »verwegen« an (945). Und warum sollte die Freude verschwiegen sein, die dem Rezensenten durch den Vorschlag gemacht wurde, eine künftige Sailer-Edition könnte sich beispielsweise die Kritische Spalding-Ausgabe zum »Anreiz und Vorbild« (ebd.) nehmen?