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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

92–94

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Godel, Dorothee

Titel/Untertitel:

Predigt als Vermittlung. Studien zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers ersten Predigten.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XII, 408 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 171. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-031800-5.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Die anzuzeigende Studie wurde im Wintersemester 2011/12 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen als Dissertation eingereicht. Sie war von dem Praktischen Theologen Volker Drehsen angeregt und betreut, nach dessen zu frühem Tod dann aber von Birgit Weyel und Friedrich Hermanni begutachtet worden. Für die Drucklegung hat sie eine geringfügige Überarbeitung erfahren.
Man könnte meinen, das Thema sei mit der kapitalen Untersuchung von Christoph Meier-Dörken (»Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers«, 1988) bereits erschöpfend behandelt worden. Demgegenüber setzt Dorothee Godel jedoch zwei neue Akzente, indem sie das Quellenkorpus einerseits nicht nur auf seine theologischen Gehalte, sondern auf das in ihm zutage tretende Verhältnis von Theologie und Philosophie untersuchen möchte und es andererseits wesentlich enger fasst: Während Meier-Dörken die »frühen« Predigten Schleiermachers chronologisch mit dessen 1804 erfolgter Berufung an die Universität Halle begrenzt, rechnet G. zu den »ersten« Predigten Schleiermachers lediglich die Serie derjenigen 18 Kanzelreden, die von der »Probepredigt zur Ersten theologischen Prüfung« 1790 bis zum 1794 vollzogenen Antritt der Hilfspredigerstelle in Landsberg (Warthe) entstanden sind und die, anders als die meisten späteren Predigten Schleiermachers, in Gestalt von ausformulierten Autographen bewahrt blieben.
Die im Dezimalsystem gehaltene, bis auf sechsstellige Ziffern ausdifferenzierte Gliederung ist nicht leicht zu durchschauen, erweist sich bei näherem Zugriff aber doch als pragmatisch geordnet. Das erste Kapitel bietet »Einleitung und Vorbemerkungen« (1–28) und dokumentiert bereits mit diesem offenkundigen Hendiadyoin die rhetorischen Ambitionen G.s. Ein wenig umständlich wird dabei die Fragestellung präzisiert, die Quellenlage gesichtet und das geplante Vorgehen erläutert.
Der als zweites Kapitel gezählte Hauptteil (29–376) präsentiert die angekündigten »Predigtanalysen«. Dabei richtet sich der Blick zunächst auf »das Verhältnis von Schleiermachers ersten Predigten zur Eberhardschen und Kantischen Praktischen Philosophie«. Mit diesen beiden Namen sind tatsächlich die für den jungen Theologen entscheidenden philosophischen Impulsgeber benannt. Als exemplarischer Gegenstand der Analyse dient dabei die Examenspredigt vom 15. Juli 1790. Dieses biographisch wichtige Dokument erfährt eine intensive kontextuelle, strukturelle und rhetorische Analyse, als deren Fluchtpunkt die in der Predigt aufscheinende »ethische Konzeption« (51–62) angesetzt wird. Anhand der Begriffe der Glückseligkeit, des Höchsten Gutes und des Vollkommenheitsstrebens arbeitet G. daraufhin die »Funktion der Religion im Gefüge der Handlungsmotivation« (82) heraus. Eher sporadisch sehen sich zuletzt auch »die übrigen Predigten aus dem relevanten Zeitraum« (104–116) noch ergänzend hinzugezogen.
Sodann verortet G. die »ersten« Predigten Schleiermachers im Horizont der reifen, als Neologie angesprochenen Aufklärungstheologie. Dabei wird die 1790 entstandene Predigt »Vom rechten Gebet des Christen im Namen Jesu« nach dem bereits zuvor erprobten Muster einer exemplarischen Analyse unterzogen, welche abermals in die Bestimmung der darin entworfenen »ethischen Konzeption« (138–158) ausmündet. Besonders instruktiv erscheint da?bei der Vergleich mit einer 1768 publizierten Gebetspredigt Johann Joachim Spaldings, die Schleiermacher nicht allein inspiriert, sondern auch nachweislich zu »wörtliche[r] Anlehnung« (174) mo-tiviert hat. Zwar kann G. zugleich graduelle Differenzen des in diesen Vergleichspredigten aufscheinenden Gebetsverständnisses be?stimmen, doch zumal hinsichtlich der übereinstimmenden ge?sinnungsethischen Ausrichtung lässt sich gleichwohl eine »nicht unbeträchtliche Übereinstimmung von Schleiermachers ersten Predigten mit der Spaldingschen Religionstheologie« (216) ausmachen, die sich zumal in dem anthropologischen Dependenzmotiv sowie dem christologischen Lehrgehalt so sehr verdichtet, dass G. diesbezüglich geradezu ein unmittelbares »Abhängigkeitsverhältnis Schleiermachers von Spalding« (229) konstatiert. Auch wenn Schleiermacher die Anregungen des aufklärerischen Meistertheologen selbstverständlich in eigener Anverwandlung verarbeitet habe, komme der von Spalding vertretenen Religionstheologie gleichwohl »die Bedeutung eines für die […] Entwicklung Schleiermachers wesentlichen und maßgeblichen Faktors zu« (233), weshalb dieser, jedenfalls in seinen jungen Jahren, »im Grunde wie Spalding als Neologe bezeichnet werden kann« (379). Ein knapper Blick auf die übrigen »ersten« Predigten Schleiermachers (vgl. 238 f.) bestätigt und erhärtet diesen Befund.
Schließlich profiliert G. das von ihr untersuchte Textkorpus noch durch den Vergleich mit den zeitgleich entstandenen philosophischen und literarischen Etüden ihres Helden. In strukturanalogem Verfahren wird dabei die Neujahrspredigt von 1792, welche »Die wahre Schäzung des Lebens« zum Gegenstand hat, einer exemplarischen, wiederum auf die »ethische Konzeption« (264–300) ab?zielenden kontextuellen und sprachlich-rhetorischen Analyse un?terzogen. Die dabei gewonnenen Einsichten führen zu dem doch eher mäßig überraschenden Resultat, dass sich die in dieser Predigt auszumachende philosophische Theologie einerseits aus griechisch-antiken, andererseits aus Kantischen sowie aus den damit konkurrierenden, an der Universität Halle erwachsenen weltweisheitlichen Impulsen speist, die Schleiermacher dann freilich, der Redesituation entsprechend, in einem »aufgeklärt christlichen Sinne adaptiert und auf diese Weise in christlich-theologischer Hinsicht neu interpretiert« (365) habe. Abermals bestätigen zwei andere »erste« Predigten Schleiermachers das in der breiten Einzelanalyse gewonnene Bild (vgl. 366–376).
Während eine als drittes Kapitel gezählte knappe Ergebnissicherung (377–382) den Ertrag der Studie bündig zusammenfasst, scheint der sich anschließende kurze »Ausblick auf die gegenwärtige Homiletik« (383–387) lediglich dem Irrtum, die Legitimität einer predigtgeschichtlichen Spezialuntersuchung könne sich allein durch die Demonstration ihrer unmittelbaren Aktualitätsrelevanz ausweisen, geschuldet und darum verzichtbar zu sein.
Mit der vorliegenden Arbeit ist die thematisch benachbarte Studie von Meier-Dörken nicht antiquiert, sondern anregend ergänzt worden. Die Schleiermacher-Forschung wird von ihr ebenso profitieren wie die Erkundung der deutschsprachigen Aufklärungstheologie. Darüber hinaus lässt sich übrigens auch ein nicht zu unterschätzender periodologischer Gewinn konstatieren. Denn deutlicher als zuvor liegt nun am Tage, dass die protestantische Theologie zu Beginn des 19. Jh.s keineswegs einen unableitbaren Neuanfang inszeniert hat, sondern in weichen Übergängen aus dem von aufklärungsphilosophischen und neologischen Gottesdenkern bereiteten Mutterboden erwachsen ist.