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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1121–1123

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Döpp, Heinz-Martin

Titel/Untertitel:

Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1998. XVI, 364 S. gr.8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 24. Kart. DM 96,-. ISBN: 3-7720-1875-0.

Rezensent:

Wilhelm Pratscher

Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung einer bei K. Berger in Heidelberg erarbeiteten und 1995 angenommenen Dissertation. Sie birgt eine Fülle historischen Materials und versucht gleichzeitig, Perspektiven für die Gegenwart aufzuzeigen. Das Buch ist es wert, möglichst detailliert vorgestellt zu werden.

Die Einleitung (1 ff.) zeigt zunächst in einem Forschungsbericht die Notwendigkeit der genaueren Erörterung der Thematik auf und bietet dann einen guten Überblick über Ziel und Arbeitsweise. "Die Arbeit setzt sich zum Ziel, bei der Bearbeitung der Texte ihre sprachliche Struktur und ihre kontextuelle Einordnung zu berücksichtigen. Überlieferungsgeschichtlich wird jeweils zunächst nach der Herkunft der Deutungsmotive und nach eventuellen Trägergruppen gefragt. Als Textbasis werden neben neutestamentlichen und zwischentestamentlichen Quellen ausführlich rabbinische und altkirchliche Texte herangezogen. Die entsprechenden Texte antiker Autoren sollen im Vergleich den neutestamentlichen Texten Profil geben" (5). Ein anspruchsvolles Unternehmen, dem der Vf. insgesamt souverän gerecht wird.

Er gliedert die Arbeit in drei Teile: Strafe für jüdische Vergehen, Frevel der Römer, heilsgeschichtliche Epochenablösung (der mittlere Teil ist extrem kurz - man wird ihn gleichwohl als formal gleichberechtigt neben den beiden anderen stehen lassen). Parallel zur Gliederung in die drei Teile nimmt der Vf. eine solche in vierzehn Kapitel vor. Dabei und bei der Formulierung der Kapitel kann man Fragen nach der letztlichen Gültigkeit solcher Gliederungen stellen. Doch sieht der Vf. selbst die diesbezüglichen Probleme der Zuordnung, besonders in den ersten Kapiteln (15). Die Kapitel sind gleich strukturiert: auf eine kurze Darstellung der Traditionsgeschichte folgt die Interpretation und Einordnung der einschlägigen Texte, schließlich eine kurze, gleichwohl differenzierende Zusammenschau. Im folgenden können natürlich nur einige wesentliche Aspekte der weitverzweigten Thematik angedeutet werden: In Teil I (17-238) geht es um das Deutungsschema "Strafe für Vergehen". In seinen verschiedenen Facetten haben wir hier die am weitesten verbreitete theologische Begründung für die Tempelzerstörung vor uns.

Kapitel I-IV behandeln Deutungen, die sich auf die Ablehnung bzw. Tötung bestimmter Menschen beziehen: Das unschuldig im Tempel vergossene Blut; die Ablehnung der Propheten; die Tötung Jesu und des Herrenbruders Jakobus. Einige wichtige Ergebnisse: In rabbinischen Texten wird das Deutungsmuster des unschuldig vergossenen Blutes als Voraussetzung für die Zerstörung des Zweiten Tempels mit einer Ausnahme nicht verwendet - der Vf. vermutet wohl zu Recht, daß dieses Deutungsmuster durch christliche Autoren im Blick auf Jesus und die christlichen Verkündiger inhaltlich besetzt war (31 f.). Wichtig ist auch die Erkenntnis, daß u. a. für Mt und Lk die Tempelzerstörung kein Verwerfungsurteil für ganz Israel bedeutet (24.45). Problematisch scheint die Trennung zwischen historischem und theologischem Urteil in bezug auf Origenes zu sein. Letzteres impliziert doch wohl ersteres (64 f.).

Die Kapitel V-VIII diskutieren (vgl. 14) Deutungen in bezug auf das Verhalten der Priester. Kap. V (82 ff.) thematisiert das Versagen der Priester. Während es freilich hier (wie in Kap. I-IV) um kausale Aspekte geht, geht es in Kapitel VI-VIII stärker um finale Reinigung durch Feuer (101 ff.); Zerstörung und Bewahrung (110 ff.); Zerstörung und Ersatz (119 ff.). In den folgenden Kapiteln geht es wieder um kausale Aspekte. Es stellt sich also die Frage, ob die Strukturierung nicht hätte anders gestaltet werden können. Beim Priesterversagen handelt es sich um ein typisch jüdisches Motiv palästinischer Provenienz, das freilich keine grundsätzliche Kritik am Priestertum darstellt.

Das in bezug auf die jüdischen Traditionen wohl wichtigste Kapitel (IX, 134 ff.) behandelt das kultische Versagen des Volkes (Mißachtung der Gebote durch Götzendienst, im wesentlichen Assimilierung an die hellenistische Umwelt ). Der Vf. zeichnet sehr schön die Entwicklung dieses Motivs nach: Ab dem 2. Jh. wird die Strafe für den Götzendienst weniger in der Tempelzerstörung als in der Exilierung des Volkes gesehen. Dabei betrachtet man die Tempelzerstörung nie als endgültig, auch wenn man die tiefe Trauer der frühen Zeit nicht aufrechthält. Die Einzelmotive sind vielfältig und nicht auf einen Nenner zu bringen, letztlich aber wird unter rabbinischer Führung die Hinwendung zur Tora als das entscheidende Ziel vor Augen gestellt.

Während die Deutung in bezug auf kultisches Versagen Deutekategorien für die Zerstörung des ersten Tempels verwenden konnte, stand für die talmudische Deutung in bezug auf das zwischenmenschlicheVersagen des Volkes (Kap.X, 200ff.) nur die prophetische Sozialkritik zur Verfügung. Wiederum geht es, wie der Vf. deutlich herausarbeitet, um die Motivation zur Toraobservanz mit dem Ziel der Konsolidierung des Volkes.

Ein letztes Motiv für die Zerstörung, die eigenmächtigen Aufrührer (Kap. XI, 219 ff.), spielt in der palästinischen Tradition eine Rolle (bes. Josephus) und greift wieder ein biblisches Deutungsmuster auf. Die antizelotische Ausrichtung dieses Motivs steht bei den Rabbinen im selben Kontext wie das Motiv vom zwischenmenschlichen Versagen des Volkes: Es geht wieder um Konsolidierung des Volkes. (Unklar: 238 wird, im Unterschied zu 226, die Tempelzerstörung nicht in einen Kausalkonnex zum aufrührerischen Verhalten gebracht.)

Teil II (= Kap. XII, 239-246) umfaßt gut sechs Seiten Text, ist aber gleichwohl Teil I diametral entgegengesetzt, insofern es in der Tempelzerstörung nicht die Strafe für jüdisches Fehlverhalten sieht, sondern römischen Frevel (Or Sib IV und V). Der Vf. ortet hier zu Recht die antirömische Stimmung des ausgehenden 1. Jh.s. Ein paar Worte zur Einordnung in Paralleltexte wäre wünschenswert gewesen (auch wenn dabei nicht von der Tempelzerstörung die Rede ist ).

Teil III (247-285) bringt eine spezifisch christliche (bzw. christlich-gnostische) Sicht: Die Ablösung einer heilsgeschichtlichen Epoche durch Gott. Kap. XIII (248 ff.) zeigt der Vf. den Gegensatz zu jüdischen Deutungen, die - in welcher konkreten Form auch immer - in Anknüpfung an die Bewältigung der Zerstörung des Ersten Tempels auch eine Wiedererrichtung des Zweiten Tempels und eine bleibende Gültigkeit der ganzen Tora vertreten. Hier dagegen wird der Jerusalemer Tempelkult als historisch begrenzt dargestellt (zur Abwehr von Götzendienst) bzw. es wird ( im Anschluß an Jes 1; 66; Jer 7) überhaupt die letztliche Unangemessenheit der Opfer Gott gegen-über betont und diese spiritualisiert. Die Trennung zwischen Christentum (auch Judenchristentum) und Judentum zeigt sich hier wohl so deutlich wie kaum an einer anderen Stelle.

Kapitel XIV (276 ff.) knüpft an das bisher Ausgeführte an: Die Tempelzerstörung bestätigt die von Christus ermöglichte gnostische Erkenntnis, so wie jüdischerseits die Bedeutung der Tora und (juden)christlicherseits die ohne Tempelkult auskommende christliche Frömmigkeit bestätigt wurde.

Auf den Seiten 286-312 bietet der Vf. Abschlußbemerkungen, die zusammenfassen und gleichzeitig strukturieren. Die dargestellten Deutungen orientieren sich demnach an fünf allgemeinen Vorgaben (287 ff.): Deutungschemata der Zerstörung des Ersten Tempels und der Bezug auf die prophetische Sozialkritik sind ebenso zu nennen, wie die Orientierung an historischen Zusammenhängen (Aufstandsbewegungen; Auftreten der Römer; Tod des Herrenbruders Jakobus), an funktionalen Zusammenhängen (Priesterversagen, Unmöglichkeit des Vollzugs der Opfer; Aufhebung aller auf den Tempel bezogenen halachischen Bestimmungen) und an augenblicklichen Interessen (Legitimierung der Person, um deretwillen der Tempel zerstört wurde; Distanzierung eines Verhaltens, das die Zerstörung verursachte). Dazu treten (292 ff.) spezielle Beobachtungen. (Eine Sachlogik ist hier schwer erkennbar.)

Das Ganze schließt mit einem kurzen Ausblick (304 ff.). Dabei werden sowohl sehr interessante religionsphänomenolgische Übereinstimmungen zwischen Judentum und Christentum festgestellt (u. a. Verzicht auf Opfer, Konzentration auf das Wort und Stärkung der Lehrautorität, Umgang mit Trauer und Hoffnung, Verständnis der Gegenwart Gottes) als auch einige Konsequenzen für das Verhältnis der Religionen zueinander formuliert (u. a. Behauptung der Aufkündigung des Bundes erst nach der Trennung).

Insgesamt legt der Vf. eine hochinteressante, sehr detaillierte und sorgfältig gearbeitete Monographie vor. Er hat sich nicht nur in der Bearbeitung eines vernachlässigten Themas große Verdienste erworben, sondern auch im Aufzeigen von Konsequenzen für den gegenwärtigen Umgang mit dem Judentum und seinen Traditionen.