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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

92–94

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wils, Jean-Pierre [Hrsg.] unter Mitarb. von V. Pfeifer

Titel/Untertitel:

Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen.

Verlag:

Tübingen: Francke 1997. 211 S. 8 = Ethik in den Wissenschaften, 9. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7720-2619-2.

Rezensent:

Hubert Meisinger

Dieser Sammelband möchte laut Vorwort einen Beitrag dazu leisten, "den Sinn und die Grenzen einer Anthropologie heute" (7) zur Flankierung moralischer Theorien zu befragen und zu konturieren. In sechs Einzelbeiträgen wird diese Aufgabe mit unterschiedlichen Perspektiven angegangen.

Jean-Pierre Wils macht in seinem Beitrag "Anmerkungen zur Wiederkehr der Anthropologie" darauf aufmerksam, daß eine kontextuelle Anthropologie heute notwendig sei, die den pluralisierten Menschen ernst nehme und sich im Sinne einer "beratenden Ethik" (28) für die Menschen einsetze. Dabei dürfe weder die Ethik "natural unwahrscheinlich" (16) werden, noch sei ein solcher kulturanthropologischer Ansatz als relativistisch zu verdächtigen. Die Sonderstellung des Menschen bestehe gerade in seiner "Heterogenität" (31). Anthropologie sei mittelbar moralisch relevant: Sie habe die Aufgabe, ethische Engführungen empirisch zu korrigieren und empirische Reduktionismen ethisch zu korrigieren.

Micha H. Werner beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage: "Kann Phantasie moralisch werden?" Insgesamt scheine einiges für die "traditionelle Einschätzung zu sprechen, daß Phantasie ein moralisch ambivalentes Vermögen darstellt, das ’gezügelt’ werden muß, wenn es nicht zu einem Problem für die Fähigkeit zu sittlicher Selbstbestimmung werden soll" (59). Letztlich konstatiert Werner ein "Bildungsproblem; das Problem der Ausbildung einer moralischen Sensibilität, an die durch das ’veränderte Wesen menschlichen Handelns’ zum Teil neue, zusätzliche Anforderungen gestellt werden" (59). Phantasie spiele auf jeden Fall eine wichtige Rolle dabei, neue Institutionen zu etablieren und alte zu verändern.

Theda Rehbock fragt grundsätzlich: "Warum und wozu Anthropologie in der Ethik?" Entsprechend der platonischen Anamnesis-Lehre gehe es darum, implizite und universale Hintergrundorientierungen des Menschen explizit zu machen, bei denen es sich um eine Art "moralischer Semantik [handele], mittels derer sich moralische Normen, Urteile, Orientierungen allererst formulieren lassen" (72). Am Beispiel der medizinischen Ethik verdeutlicht Rehbock, daß keine völlig neue medizinische Ethik notwendig sei, sondern lediglich eine den gegenwärtigen Bedingungen und Problemen angemessene Deutung und möglicherweise eine partielle Korrektur und Erweiterung der alten Ethik. Es gehe um ein auf Einsicht zielendes Reflektieren der praktischen Grundbedingungen der menschlichen Existenz, nicht um (propositionale) Wahrheit oder (normative) Richtigkeit. Den Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses (G. E. Moore) hält sie für unbegründet. Denn Normen dürften nicht nur logisch möglich, sondern sie müßten auch real möglich sein.

Anne Kemper beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit "ästhetischer Naturerfahrung". Weil diese die einzige Kultursphäre ausmache, die wir selbst nicht stiften können, und weil sie diese Sphäre als etwas darstelle, das den Zugang zu uns selbst als kulturbedürftigen Naturwesen offenhalte, bedeute die fortwährende Zerstörung, Zurichtung und Manipulation außermenschlicher Natur zugleich eine die somatische Beeinträchtigung transzendierende Entkultivierung unserer leiblichen Naturalität und damit eine Kränkung, die letztlich die Freiheit menschlicher Kultivierung und menschlichen Kunstschaffens destruiere. Kemper schafft damit ein anthropologisch-sozialethisches Modell der Ethik, das als eigenständiges moralisches Argumentationsverfahren zu verstehen ist und dem es im Rahmen einer Naturschutzethik um Kursvermeidung, -korrekturen und -veränderungen, nicht nur um nachträgliche Vorschriften geht.

Reiner Hertel fragt in seinem Beitrag: "Was kann die Evolutionsbiologie zur Diskussion in der Ethik beitragen?" Seine vorweggenommene Antwort lautet: "Wenig". In einem ersten Abschnitt diskutiert er philosophische Versuche, die eine Ethik aus der Gesamt-Entwicklung des Universums, d.h. aus der Evolution im weitesten Sinn, zu erschließen versuchen. Im zweiten Abschnitt bespricht er den Anspruch der modernen Soziobiologie. Er äußert sich kritisch gegenüber der Soziobiologie, die mit ihren Konzepten der Gesamteignung und der Verwandtschaftsselektion immer noch zu simpel sei, das Organisationsniveau der Ethik zu erfassen.

Ungeachtet aller Kritik an der Soziobiologie sei Anthropologie mit ihrem biologischen Aspekt essentieller Teil der ethischen Argumentation. Dies erläutert er in einem letzten Abschnitt am Beispiel der Diskussion über den freien Willen. Freiheit sei keine Undeterminiertheit, sondern eine besonders differenzierte Form der Determination, bei der alle dem menschlichen Geist zugänglichen Quellen für entscheidungsbedeutsame Gesichtspunkte ausgeschöpft würden. Im "kosmologischen Verstand" gäbe es jedoch letztlich keinen freien Willen. Der Mensch werde objektiv frei, je mehr er den allgemeinen (Götter-) Standpunkt einnehme.

Günter Dux schließlich beschäftigt sich mit "Normen und ihrer Geltung im Verständnis der prozessualen Logik der Neuzeit". Während für die hergebrachte Ursprungslogik gelte: Nichts Neues unter der Sonne, gelte für die prozessuale Logik, daß wirklich Neues im Universum zu entstehen vermag. Da die Prozessualität der Kulturgeschichte anderer Art sei als die Prozessualität der Naturgeschichte, komme alles darauf an, einsichtig zu machen, wie der Übergang aus der Naturgeschichte in die Kulturgeschichte möglich war. Revolutionär an seinen historisch-genetischen Reflexionen sei, daß jedes Gattungsmitglied die Geschichte der soziokulturellen Formen, in denen Menschen ihr Leben führen, von neuem beginne. Wenn Interessen mit im Spiel seien, würden Regeln (eigentlich nur antizipatorische Erwartung) von vornherein als Normen (als normativ-auffordernde Erwartung) ausgebildet. Die Machtfrage spiele dabei eine große Rolle. Auch für die Moralität und ihre Verbindlichkeit postuliert Dux eine historisch-genetische Herleitung. Das Vertrauen, das jeder dem anderen entgegenbringe, sei das Korrelat einer Pflicht, die sich schließlich als Moral verfestige.

Die im Vorwort formulierte Aufgabe wird mit diesen verschiedenen Überlegungen differenziert aufgegriffen. Es werden wichtige Vorgaben geleistet für auch zukünftig notwendige Versuche, den Beitrag der Anthropologie zu einer Ethik weiter zu präzisieren. Daß ein solcher Beitrag über die Setzung von Rahmenbedingungen für ethisches Argumentieren hinausgeht, ohne gleich dem Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses zu erliegen, dürfte mit diesen verschiedenen Ansätzen plausibel gemacht worden sein. Dennoch besteht auch Grund zur Kritik:

1) Leider beziehen sich die Autorinnen und Autoren der verschiedenen Beiträge in diesem Buch nicht aufeinander und lassen dadurch die Möglichkeit ungenutzt, aus den einzelnen Knoten, die ihre Beiträge jeweils bilden, ein kleines Netz zu knüpfen. Auf diese Art und Weise wäre z. B. zu klären gewesen, in welcher Beziehung die Meinung von Dux, die prozessuale Ethik sei unmittelbar auf wirklich Neues im Universum bezogen, zu der Aussage von Rehbock steht, daß es in der Ethik nichts vollständig Neues an Wissen zu erwerben gibt.

2) Die Soziobiologie wird von Hertel leider nur in ihrer sehr populistischen Fassung, die ihr R. Hawkins gab, kritisiert. Moderne Soziobiologie aber ist längst differenzierter und versucht, die pluralen Ursprünge des sittlichen Verhaltens des Menschen in den Blick zu nehmen, ohne jedoch dabei den genetischen Aspekt aus den Augen zu verlieren.

3) Dux schreibt im Zusammenhang seiner Überlegungen zu Interessen, Regeln und Normen: "Jeder sucht von sich aus verständlich, und das heißt: korrekt zu reden, um verstanden zu werden" (191 f.). Eine korrekte Sprache wird auch in den Beiträgen dieses Sammelbandes verwendet - leider nicht immer eine für jeden verständliche. Dennoch ist dieser Band eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die sich mit Anthropologie und Ethik beschäftigen.