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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

88–90

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bieler, Andrea, Gerber, Christine, Petersen, Silke, u. Angela Standhartinger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Weniger ist mehr. Askese und Religion von der Antike bis zur Gegenwart.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 244 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04169-5.

Rezensent:

Katharina Heyden

Die Devise »Weniger ist Mehr« steht in westlichen Gesellschaften hoch im Kurs – sei es aus Überdruss am Überfluss, sei es in Management-Ratgebern, im Zusammenhang von Nachhaltigkeitsdebatten oder in Verbindung mit dem Ideal der Selbstoptimierung. Die von Christine Gerber und Silke Petersen im Jahr 2014 veranstaltete Tagung und deren Dokumentation im gleichnamigen Sammelband haben daher einen hohen Aktualitätsbezug. Es geht, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung (7–13) mit wenigen Worten andeuten, darum, den religiösen Dimensionen von »Weniger ist Mehr« auf den Grund zu gehen, und zwar in Fallstudien zu asketischen Praktiken und Diskursen, die zeigen sollen, wovon, für wen und auf welche Weise in einem historischen oder gegenwärtigen religiösen Kontext »weniger mehr« sein kann.
Der Untertitel »Askese und Religion von der Antike bis zur Ge?genwart« verspricht freilich einen weiteren Horizont, als der Band tatsächlich bietet. Denn zum einen beschränken sich alle bis auf zwei Beiträge auf die christliche Tradition, zum anderen wird eigentlich kein Bogen von der Antike bis zur Gegenwart gezogen, sondern es werden – mit Ausnahme eines Beitrags zum Mittelalter – im ersten Teil antike und im zweiten gegenwärtige Phänomene be?handelt. Insofern wäre die Formulierung »Jüdisch-christliche Askese und ihre Kontexte in Antike und Gegenwart« treffender gewesen.
Das Anliegen, asketische Phänomene kontextsensibel zu be?schreiben und zugleich nach ihrer Bedeutung für aktuelle Debatten zu fragen, ist ebenso wichtig wie anspruchsvoll. Es erfordert sorgfältige historisch-exegetische Arbeit und zugleich eine scharfsinnige Gegenwartshermeneutik. Wie bei einem Sammelband nicht anders zu erwarten, werden die 14 Beiträgerinnen diesem Anspruch in unterschiedlichem Maß gerecht. Äußerst instruktiv und sowohl historisch als auch für den heutigen Askese-Diskurs sehr erhellend sind die beiden neutestamentlichen Studien von Angela Strotmann zur umstrittenen Frage der Asketik Jesu (25–44) und von Christine Gerber zum paulinischen Lebenskonzept der Ehelosigkeit (45–62). Judith Hartenstein (85–97) und Silke Petersen (99–114) legen eindrückliche historische Studien zu gnostischen und anderen christlichen Kreisen der Antike vor, bleiben aber im Blick auf Aktualitätsbezüge vage. Ähnliches gilt für Angela Standhartingers historisch und hermeneutisch überzeugende Studie zur Darstellung der jüdischen Therapeuten bei Philo von Alexandrien (115–130). Auch der auf einer empirischen Studie beruhende Beitrag von Barbara Müller und Mireille Kamenis zum Umgang mit digitalen Medien in heutigen Benediktinerklöstern (161–178) sowie Nina Heinsohns Analyse zu Simone Weils Konzept der dé-création als Selbstverzicht in Nachahmung von Gottes Schöpferhandeln (179–190) bleiben im Wesentlichen bei den beschriebenen Einzelphänomenen stehen. In dieser Hinsicht wichtig ist der Beitrag von Pearly Usha Walter (191–203): Vor dem Hintergrund der von ihr skizzierten blühenden Enthaltsamkeits-Kultur in der gesellschaftlichen Oberschicht Indiens weist sie darauf hin, dass Askese in bestimmten Kontexten gesellschaftliche Strukturen, wie etwa das indische Kastensystem, eher abstützt als in Frage stellt – entgegen der bei vielen Beiträgerinnen dieses Bandes beliebten Definition von Richard Valantasis, der Askese als Performance alternativer Kultur – und damit auch als gesellschaftskritischen Akt versteht.
Enttäuschend sind die beiden Beiträge, die jeweils einen der beiden Teile des Bandes eröffnen: Gerlinde Baumanns Anwendung des Max Weber’schen Begriffs der »innerweltlichen Askese« auf die Thematisierung von Arbeit im Alten Testament (17–24) bleibt so?wohl exegetisch als auch philosophisch an der Oberfläche; Ulrike Eichlers Darstellung der Klara von Assisi (145–160) folgt eher dem hagiographischen als einem wissenschaftlichen Duktus und scheint im Wesentlichen zeigen zu wollen, dass Klara zu Unrecht im Schatten des Franz von Assisi steht.
Alle Beiträgerinnen thematisieren den im Untertitel des Bandes verwendeten Begriff Askese und setzen ihn, wiederum in unterschiedlicher Intensität, zu den von ihnen beschriebenen Phänomenen in Beziehung. Dabei wird immer wieder deutlich, dass der moderne Begriff Askese das mit dem griechischen Wort ??????? Gemeinte nicht oder nur sehr eingeschränkt trifft: Während heute mit dem Wortstamm in erster Linie Verzicht, also eine Negation, assoziiert wird, bedeutete das antike Wort vor allem »Übung, Training« und erst in zweiter Linie Impulsbeherrschung, und dies immer um eines höheren Gutes willen. In der Einleitung weisen die Herausgeberinnen auf diese Diskrepanz hin, ohne sie jedoch näher zu problematisieren (8). Im Durchgang durch den Band fällt auf, dass die meisten Beiträgerinnen Askese eher im modernen Sinn des Wortes verstehen und darunter lediglich Verzichtspraktiken subsumieren. – Es gibt aber durchaus Impulse für ein positives Verständnis von Askese, etwa wenn A. Strotmann Armut und Ehelosigkeit als ein »Einüben« in das »Ethos der basileia Gottes« (43) auffasst, wenn C. Gerber bei Paulus den Eheverzicht als Voraussetzung für die Freiheit zum Dienst am Kyrios ausmacht, wenn J. Hartenstein die Enthaltsamkeit mancher frühchristlicher Gruppen als Antizipation eines für das Leben nach dem Tod ersehnten Zustandes einer vom Körper befreiten Geistigkeit interpretiert, oder wenn A. Bieler Askese allgemein und Fasten im Speziellen als »Körpertechnik coram deo« versteht.
Angesichts der Diversität der in den Beiträgen dargestellten Phänomene und Diskurse ist die den Band abschließende systematische Reflexion von Elisabeth Hartlieb (223–238) von sehr großem Wert. Hier werden die Einzelbeobachtungen gebündelt und theologisch reflektiert sowie Aufgaben für die weitere Arbeit am Thema benannt. Zu Recht fordert die Autorin, dass evangelische Theologie nicht in Konfessionspolemik verharren dürfe und Askese verstärkt als Weg zur Gottesbegegnung thematisieren sollte; dass dazu ein weiter Begriff von Askese genutzt werden müsse, der z. B. auch Status- und Aggressionsverzicht integriert; dass der Unterbrechungs?charakter von Askese und die damit verbundene Beförderung von Glaubenserfahrung theologisch starkgemacht werden sollte; schließlich dass eine sorgsame Unterscheidung von legitimer und illegitimer Inanspruchnahme von Religion für asketische Praktiken notwendig sei.
Nicht zuletzt dank dieser Reflexion liegt ein Sammelband vor, der historisches Interesse befördert und zugleich gegenwärtige Diskurse bereichert.