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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

65–67

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mtata, Kenneth, and Craig Koester [Eds.]

Titel/Untertitel:

To All the Nations. Lutheran Hermeneutics and the Gospel of Matthew.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 198 S. = LWF Studies 2015/2, Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-04233-3.

Rezensent:

Walter Klaiber

Wer in Ulrich Luz’ Matthäuskommentar die Abschnitte zur Wirkungsgeschichte liest, stellt fest, wie schwer sich lutherische Exe-gese mit manchen Stellen im Matthäusevangelium getan hat. Der Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Glauben ohne des Gesetzes Werke ließ sich mit Texten wie Mt 7,21 eben nur schwer vereinbaren. Also war viel exegetische Kunst nötig, um Matthäus und den lutherisch interpretierten Paulus in Einklang zu bringen. Im Zuge der Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum 2017 hat sich der Lutherische Weltbund dieser hermeneutischen Herausfor-derung gestellt und 2014 eine Tagung zu dieser Thematik veranstaltet, deren Referate nun veröffentlicht wurden.
Nach der Einführung in die Thematik durch die Herausgeber (11–14) referiert Eve-Marie Becker, Contemporary Approaches to Matthew: A »Lutheran« Critique (15–25), die Kritikpunkte Luthers zur Botschaft des Matthäus und zeigt, dass diese Kritik die heutige Matthäusinterpretation noch sehr viel stärker treffen würde. Mark Allan Powell vertritt in seinem Aufsatz Reading Matthew in Light of a (Recovered) Hermeneutic of Law and Gospel (27–43) zwei Anliegen: 1. Die Kategorien Gesetz und Evangelium dienen nicht dazu, be?stimmte Texte auf diese Alternativen festzulegen. Biblische Texte wirken je nach Situation als verurteilendes Gesetz oder auch als befreiendes Evangelium. 2. Nicht die Intention des Autors ist für die Deutung eines Textes maßgebend, sondern die Wirkung auf die Leser (Reader-Response-Criticism). Konkret heißt das: Gerade weil der matthäische Jesus erwartet, dass ich die Gebote der Bergpredigt erfülle und dadurch gerettet werde, wirken diese Texte – entgegen der Intention des Autors – als tötendes Gesetz, das mich zur Verzweiflung treibt, und machen mich bereit, auf das Evangelium zu hören (42 f.).
Auch Timothy Wengert, Matthews’s Gospel for the Reformation: »The Messiah … sent and Manifested« (45–58), plädiert dafür, dass Schriftstellen verschiedene Bedeutungen in sich tragen können, und weist darauf hin, dass für Luther das sola scriptura nur relative Bedeutung hatte. Für Luther war das Christuszeugnis des Matthäus zentral. Roger Marcel Wanke, Text, Context and Tradition: Implications for Reading Matthew (59–71), liest das Evangelium im Kontext Brasiliens; hier spielt die Kontroverse um die Rechtfertigungslehre keine Rolle; die missionarische Reich-Gottes-Botschaft tritt ganz in den Vordergrund.
Die nächsten drei Aufsätze konzentrieren sich auf die Interpretation der Bergpredigt. Bernd Oberdorfer, How Do We Deal with a Challenging Text? (75–88), und Hans-Peter Grosshans, Perfection of Christian Life in the Face of Anger and Retaliation. Martin Luther’s Interpretation of the Sermon on the Mount (99–114), greifen beide auf die Predigtreihe Luthers zur Bergpredigt von 1532 zurück und stellen fest, dass Luther die Bergpredigt gerade nicht als verurteilendes Gesetz verstanden hat, sondern als Wegweisung für Christen. Wichtig ist dabei, dass Luther strikt zwischen dem Handeln der Christen als Privat- und als Amtsperson unterscheidet und so das Problem der Anwendbarkeit der Gebote Jesu auf den öffentlichen Bereich löst. Beide Autoren sehen das offensichtlich als legitime Unterscheidung, die sie nicht kritisch hinterfragen. Für Oberdorfer ist dabei neben dem Literalsinn auch die »lebensweltliche Plausibilität« als hermeneutische Kategorie wichtig (76). Oda Wisch?meyer, Matthew and the Hermeneutics of Love (89–98), behandelt vor allem die Bedeutung der Feindesliebe bei Matthäus und Luther, ein Thema, das auch im Zentrum des nächsten Aufsatzes steht: Vitor Westhelle, The Secret Life between Faith and Love: Luther on the Beatitudes (Mt 5,43–48) (117–132).
Eine ganz andere Perspektive eröffnen die beiden Aufsätze indischer Lutheraner: Joseph Prabhakar Dayan, A Theology of the Cross and the Passion in Matthew: An Indian Dalit Perspective (135–151), schildert eindrücklich, welche Bedeutung Passionsgeschichte und Kreuzestheologie jenseits der Sühnethematik für die Leidenserfahrung und den Befreiungskampf der Dalit in Indien hat. Monica Jyotsna Melanchthon, The Flight to Egypt: A Migrant Reading – Implications for a Lutheran Understanding of Salvation (153–168), nimmt die Geschichte von der Flucht nach Ägypten zum Anlass, Matthäus aus der Perspektive von Migranten zu lesen, und plädiert dafür, materielle und spirituelle Dimension von Heil und Befreiung nicht auseinanderzureißen.
Die problematische Polemik gegen Pharisäer und Schriftgelehrte in Mt 23 und ihre verhängnisvollen Auswirkungen auf die antijüdische Haltung des späten Luthers sind Thema einer äußerst einfühlsamen und dennoch entschieden argumentierenden Besinnung von Rabbi Laurence Edwards: Seven Woes and Seven Warnings (171–183). Die lutherische Alttestamentlerin Esther Menn, Preach-ing Reconciliation: From »Law and Gospel« to »Justice and Mercy« in Matthew (185–195), nimmt diese Problematik zum Anlass, anstelle der traditionellen Alternative Gesetz und Evangelium insbesondere für Matthäus (aber auch für andere neutestamentliche Schriften) Gerechtigkeit und Erbarmen als gesamtbiblisch orientierte hermeneutische Kategorien zu empfehlen.
Der Band bietet ein breites Spektrum lutherischer Matthäusinterpretation. Er zeigt sehr schön, dass Luther selbst die Bergpredigt nicht als verurteilendes Gesetz gelesen hat. Er macht aber auch bewusst, dass in vielen Regionen der Welt die Kontroverse um die klassische Rechtfertigungslehre nicht zu den Schwerpunkten der Matthäuslektüre gehört. Was diese Kontroverse betrifft, bleiben freilich Fragen offen: Können Lutheraner die Diskrepanz zwischen der historisch-kritischen Auslegung der Botschaft des Matthäus und ihrer lutherischen Interpretation einfach dadurch lösen, dass sie sich von der Autorität der Intention des Autors verabschieden? Wie lässt sich das mit Luthers Betonung des claritas scriptura, und das heißt doch auch: der Eindeutigkeit der Schrift, vereinbaren? Wie kann die Berufung auf den Vorrang der reader response dem Vorwurf Luthers entgehen, man mache der Schrift eine wächserne Nase, die man drehen und wenden kann, wohin man will? Und wo findet die Kategorie der »lebensweltlichen Plausibilität«, die zweifellos wirkungsgeschichtlich von hoher Bedeutung ist, ihre theologische Grenze? Hier hätte ich mir noch mehr selbstkritische Reflexion gewünscht.
Aber insgesamt bietet der Band wichtige Impulse für die hermeneutische Diskussion auch in ökumenischer Perspektive. Bei einer hoffentlich nötigen zweiten Auflage sollte freilich eine bibelkundige Person das Vorwort aufmerksam lesen und wo nötig korrigieren!