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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

63–65

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marshall, Mary

Titel/Untertitel:

The Portrayals of the Pharisees in the Gospels and Acts.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 265 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 254. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-53615-5.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Rolle der Pharisäer im Neuen Testament ist ein altes, ewig junges Thema. Als theologisch profilierte Gruppe scheint diese besondere Religionspartei für die Jesusbewegung eine der wichtigsten Bezugsgrößen zu sein. Doch weder ihre soziologische noch ihre theologische Eigenart lässt sich aus den vorhandenen Quellen ausreichend sicher bestimmen. Über viele Jahrhunderte hin hat sich die christliche Theologie deshalb mit jenem Bild begnügt, das die Evangelien entwerfen – und hat daraus eine einheitliche, feind-liche Front gegenüber Jesus von Nazareth konstruiert. Mit dem Erwachen eines historischen Bewusstseins in der Aufklärungszeit schlug das Pendel dann in die andere Richtung um. Nun sprach man den neutestamentlichen Texten über die Pharisäer zunehmend jeden Quellenwert ab und favorisierte vor allem außerbiblische Texte, die freilich nicht weniger Fragen offen lassen. Wie aber lässt sich dann mit den Aussagen über Pharisäer im Neuen Testament umgehen? Hier setzt die vorliegende Untersuchung von Mary Marshall, eine Oxforder Dissertation, ein. Denn obwohl die Fülle historischer Gesamtdarstellungen über frühjüdische Theologie wie auch exegetischer Einzelstudien zu den Pharisäern kaum noch zu überschauen ist, macht sich doch ein erstaunliches Defizit bemerkbar: Entweder sucht man zuverlässige Informationen nach wie vor außerhalb des Neuen Testaments, oder die neutestamentlichen Texte werden (wenn man sie denn in Anspruch nimmt) in ihrer jeweiligen Eigenart nivelliert und verallgemeinert. Angesichts eines inzwischen sehr viel weiter entwickelten Forschungsstandes zur Geschichte des frühen Judentums erscheint es deshalb geraten, die Aussagen der neutestamentlichen Quellen noch einmal im Zusammenhang aufzuarbeiten und dabei jede einzelne Schrift mit ihrem spezifischen »portrayal of the Pharisees« zu würdigen.
Der Forschungsüberblick erfolgt knapp und fokussiert. Daraus leitet sich dann der methodische Ansatz ab: Es geht im Folgenden weder um die Suche nach den historischen Pharisäern noch um die Ermittlung ihrer Charakteristika noch um die Frage der »christlich-jüdischen« Beziehungen im Ganzen; vielmehr geht es erst einmal um die vollständige Erfassung des neutestamentlichen Materials, die jeweiligen individuellen »Porträts« der Pharisäer in den vier Evangelien und der Apostelgeschichte, um deren interne Konsistenz wie auch ihre Beziehungen untereinander. Erst aus einer solchen detaillierten, quellenorientierten Aufarbeitung sind dann auch Perspektiven auf ein Gesamtbild der Pharisäer im Neuen Testament zu erwarten.
Die Untersuchung geht an der chronologischen Abfolge Mk/ Mt/Lk/Act/Joh entlang und organisiert in jedem dieser Kapitel das Material nach spezifischen thematischen Gesichtspunkten. In methodischer Hinsicht ist der Endtext maßgeblich. Der historische Hintergrund, wie er sich in frühjüdischen und rabbinischen Quellen darstellt, wird je nach Bedarf immer wieder punktuell eingeblendet, spielt aber keine eigenständige Rolle. Hypothetisch wird vorausgesetzt, dass weder den Autoren noch ihrem Lesepublikum Informationen über die Pharisäer aus erster Hand zur Verfügung standen, so dass die Texte schon von Anfang an auf Selbsterschließung hin angelegt sind.
Markus, dessen chronologische Priorität vorausgesetzt wird, steht am Anfang. Sein Porträt trägt ausschließlich negative Züge. Die Pharisäer erscheinen als maßgebliche Kritiker Jesu, die ihn konfrontieren, auf die Probe stellen und auf seinen Tod hinarbeiten. Auch wenn sie in der Passionsgeschichte selbst keine tragende Rolle spielen, machen sie mit den Feinden Jesu gemeinsame Sache. Sie stehen exemplarisch für jene, die Jesu Botschaft ablehnen.
Matthäus ist derjenige unter den Evangelisten, der die schärfs?ten Invektiven gegen die Pharisäer formuliert. Von Markus übernimmt er das prinzipiell negative Bild und baut es weiter aus. Die Pharisäer dehnen ihre Feindseligkeit auch auf die Boten Jesu aus. Schon die Täuferpredigt weisen sie ab. Matthäus erwähnt sie ausdrücklich unter den Adressaten der Parabel von den bösen Winzern (Mt 21) und lastet ihnen das gewaltsame Geschick der Propheten in Israel an. Da er sie vorwiegend als Lehrer des Volkes zeichnet, stellt er auch im Besonderen ihre Opposition zur Lehre Jesu heraus. Ihre Fehlleistung besteht für Matthäus nicht allein auf christologischer Ebene hinsichtlich der Erkenntnis Jesu als des Messias Israels, sondern bereits darin, dass sie die Tora als die gute Weisung Gottes nur unzureichend erfassen.
Lukas und Apostelgeschichte werden – wie üblich – als »Doppelwerk« gemeinsam behandelt. Dennoch zeigen sich zwischen beiden Teilen auch grundlegende Unterschiede. Während im Evangelium das von Mk geprägte Negativbild aufgenommen und mo?difiziert, in seiner Hauptrichtung jedoch beibehalten wird, erscheinen die Pharisäer in Act durchgängig positiv als jene Gruppierung im Judentum, die mit der jungen christlichen Gemeinde am ehesten kompatibel ist. Immerhin erweist sich auch das Bild im Evangelium schon als das differenzierteste unter den Synop-t ikern; Pharisäer fungieren bei Lukas als Gastgeber und Sympa-thisanten ebenso wie als Kontrahenten und Kritiker. Während Matthäus ihre Lehrkompetenz unterstreicht, betont Lk ihren Reichtum und ordnet sie damit zugleich seiner Motivlinie zum Umgang mit materiellen Gütern ein. In Act öffnen sich die Pharisäer hingegen dem Evangelium gern, weil sich die Botschaft von der Auferstehung Jesu mit ihrer eigenen Auferstehungshoffnung berührt; diesen Punkt stellt Lk ganz nachdrücklich heraus. Gegenüber dem Evangelium verschiebt sich die Ablehnung des Evangeliums nun auf andere jüdische Gruppen, während die Pharisäer für die Kontinuität der werdenden Kirche mit Israel stehen. Ein besonders interessanter Zug ist Lk-Act im Ganzen zu eigen: Die Pharisäer treten nicht mehr nur als Kollektiv auf, sondern auch in Gestalt namentlich benannter Figuren – wie Simon, Gamaliel oder eben Paulus als dem prominentesten aller Pharisäer.
Johannes beschließt den Gang der Untersuchung. Auch bei ihm werden die Pharisäer zunächst als Autoritäten vorgestellt, die Jesus feindlich entgegentreten. Doch in ihrer Gruppe gibt es auffällige Differenzierungen. Sie sprechen nicht mit einer Stimme, formulieren Annahme und Abweisung gleichermaßen und unterscheiden sich gerade darin von »den Juden«, die nun ihrerseits bei Johannes zur Chiffre des Unglaubens und der Welt werden. Meist halten sie sich im Hintergrund und agieren über Dritte; nur selten konfrontieren sie Jesus direkt. In der Passionsgeschichte spielen sie – wie bereits bei den Synoptikern – keine aktive Rolle.
Ein letztes Kapitel bündelt noch einmal die Ergebnisse und formuliert zwei Erträge, die das vorliegende Buch in die Debatte über die Pharisäer im Ganzen einzubringen vermag. Im Blick auf die »historischen Pharisäer« verschärft sich die Frage, wie und warum gerade diese jüdische Gruppe in der christlichen Literatur des späten 1. Jh.s eine derart dominante Rolle erlangt. Denn dass sich die Evangelisten an ihnen abarbeiten, kommt sicher nicht von ungefähr. Im Blick auf das Verständnis der Evangelien im Prozess einer neuen Selbstbestimmung von »Christen« und »Juden« plädiert die Arbeit mit Nachdruck für eine differenzierte Wahrnehmung. Bei allen Gemeinsamkeiten entwickelt doch jede der untersuchten Schriften ihre ganz eigene Sicht auf die Pharisäer und macht sie ihrem theologischen Anliegen dienstbar.
Genau darin liegt dann auch das große Verdienst dieses Buches. Die zahlreichen Aussagen über Pharisäer, die in den vier Evangelien und der Apostelgeschichte zu finden sind, taugen weder für Pauschalurteile noch für Belegstellensammlungen. Sie stehen vielmehr im Zusammenhang durchdachter Konzepte und ordnen sich den theologischen Gesamtentwürfen ihrer Autoren ein. Sie spiegeln vor allem verschiedene Perspektiven auf jüdische Theologie wider, wie sie im Erfahrungsbereich frühchristlicher Gemeinden gegen Ende des 1. Jh.s entwickelt werden. Erzählstrategisch dienen die Pharisäer vor allem dazu, Zuordnung und Abgrenzung gegenüber der alttestamentlich-jüdischen Tradition darzustellen und durchzuspielen. Diesen Prozess macht die vorliegende Untersuchung transparent – und lädt damit zu einer neuen Wahrnehmung der Pharisäer im Neuen Testament ein.