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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

59–63

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Delorme, Jean

Titel/Untertitel:

Parole et récit évangéliques. Études sur l’évangile de Marc.

Verlag:

Paris u. a.: Les éditions du Cerf 2006. 326 S. = Lectio Divina, 209. Kart. EUR 28,00. ISBN 2-204-08242-2.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Delorme, Jean: L’heureuse annonce selon Marc. Lecture intégrale du 2e évangile, I–II. Avec la collaboration de J.-Y. Thériault. Paris u. a.: Les éditions du Cerf 2008. 576 u. 616 S. = Lectio Divina, 219 u. 223. Kart. Je EUR 42,00. ISBN 978-2-204-08583-0 u. 978-2-204-08689-9.
Gathercole, Simon J.: The Preexistent Son. Recovering the Chris?tologies of Matthew, Mark, and Luke. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2006. 356 S. Kart. US$ 36,00. ISBN 978-0-8028-2901-6.
Doole, J. Andrew: What was Mark for Matthew?An Examina-tion of Matthew’s Relationship and Attitude to his Primary Source. Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVI, 222 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 344. Kart EUR 69,00. ISBN 978-3-16-152536-0.


Die hier – in Kombination – zu besprechenden Monographien ge?hören im weiteren Sinne dem Gebiet der Markusforschung an. Darüber hinaus ist den Bänden wenig gemeinsam, denn sie repräsentieren verschiedene Forschergenerationen, sprachlich wie intellektuell unterschiedlich geprägte Forschungsfragen und -traditionen und verschiedene exegetisch-theologische Forschungsparadigmen. Gerade die methodische und hermeneutische Diversität, die hinter den einzelnen Bänden zu erkennen ist, macht deren Zusammenschau jedoch anregend – insbesondere dann, wenn wir abschließend den direkten Ertrag eben für die Markusforschung festzuhalten suchen.
Jean Delorme (1920–2005) war zuletzt Professor für Evangelien-Exegese an der Katholischen Fakultät von Lyon. Im Folgenden sind insgesamt drei Bände von 2006, 2007 und 2008 zu besprechen, die Delormes Arbeiten zum Markusevangelium beinhalten. Die Re?zensentin geht chronologisch vor. Der Band: »Parole et récit évangéliques …« (2006), bereits postum herausgegeben von Jean-Yves Thériault, enthält insgesamt elf, teilweise schon zuvor erschienene und nun wiederabgedruckte, teils erstmals herausgegebene Aufsätze Delormes. Es handelt sich um Studien zu zehn Textpassagen des Markusevangeliums sowie einen einleitenden Grundsatz-beitrag: »Lire dans l’ histoire – Lire dans le langage« (2006: 19–34). In dem einleitenden Beitrag stellt Delorme seinen semiotischen Ansatz so vor, dass er ihn in einen größeren hermeneutischen Horizont einzeichnet: Mit Hilfe der Semiotik sucht er nach einer Verbindung von (historisch geleiteter) Exegese und Theologie. Diese Verbindung liegt nicht nur in Methodologie oder Epistemologie, sondern darin, dass »L’acte théologique ou exégétique« ein sujet parlant impliziert und adressiert (20) – nach Delorme ein sujet de parole (27 ff.). Im Blick auf diesen Anspruch schließen das »Lire dans l’histoire« und »dans le langage« einander nicht aus (26), sondern konvergieren, wenn die weitere Textinterpretation differenzierend nach textlichen indices und significants fragt (ebd.). Der einleitende Beitrag Delormes wird durch ein Plädoyer des Vfs. für den semiotischen Ansatz, das aus einem von Charles Perrot geleiteten Rundgespräch hervorging, abgeschlossen (2006: 31–34). Dieses Plädoyer ist apologetisch motiviert, da es die aktuelle Bedeutung neutestamentlicher Texte und exegetischer Arbeit für Weltdeutung festzuhalten sucht: Die Welt, die die Lektüre des Markus-Evangeliums erschließt, »s’offre au lecteur comme un mode possible d’être au monde« (34). Die »l’herméneutique de l’appropriation« (ebd.) entspricht ebendieser Lektüre-Einladung an den Leser.
Die Auswahl der Textabschnitte aus dem Markusevangelium, die Delorme seiner semiotischen Textanalyse unterzieht (Mk 1,1–15; 1,21–28; 6,1–6; 6,14–29; 6,53–56; 8,12; 9,14–29; 10,13–16; 14,1–11; 14,16–25), ist, wie Thériault in seiner kurzen Einleitung andeutet (2006: 5–17), kaum zufällig. Delorme untersucht vielmehr genau diejenigen Passagen im zweiten Evangelium, in denen die Funktion der »parole« deutlich wird – das gilt besonders für Mk 14,1–11, wo ein »mémoire active« entsteht und wir von der »naissance à la parole« (15) sprechen können. Die Sammlung der Aufsätze Delormes bietet eine kurze einleitende editorische Notiz zur Herkunft und zum Erstveröffentlichungsort des einzelnen Beitrags sowie ein kurzes, ebenso französischsprachiges inhaltliches abstract. Die Aufsatzsammlung wird mit einer informativen Übersicht über die semio-tischen Arbeiten Delormes seit 1976, die über das Markusevangelium hinausgehen, abgeschlossen (2006: 317–321).
Nur kurze Zeit nach der Anthologie von 2006 sind die beiden Bände »L’heureuse annonce selon Marc …« (I: 2007; II: 2008), ebenfalls herausgegeben von Jean-Yves Thériault, erschienen. Sie arbeiten die semiotische Methode Delormes nun konkret aus und führen zu einer zusammenhängenden, textnahen Interpretation des Markusevangeliums, eben einer »Lecture intégrale«, die auch den sekundären Markusschluss (Mk 16,9–20) miteinbezieht (II: 588 ff.). Die beiden Bände lassen sich de facto als Kommentar zum Markusevangelium verwenden, auch wenn Delorme selbst den möglichen Unterschied zwischen lecture und commentaire kritisch diskutiert (I: 24 ff.). Leitend sind auch hier die Kategorien von »parole« und »récit« und besonders – wie Louis Panier in seinem Vorwort (I: 5–9) erläutert – »l’énonciation« (I: 7): Mit dem theoretischen Modell, den sprachlichen Diskurs als énonciation à l’œuvre zu verstehen, der eine relation dynamique entre deux rôles, nämlich zwischen dem énonciateur (source) und dem énonciataire (cible) sieht, entwickelt Delorme die klassische semiotische Methode weiter – die Semiotik erscheint als art de lire und zugleich als métalangage (I: 7).
Der interpretierende Zugriff Delormes auf die Texte des Markusevangeliums, den wir hier leider nicht im Einzelnen diskutieren können, ist letztlich synchron orientiert – er zielt darauf, den sprachlichen Diskurs der Evangelienschrift in der »énonciation« der »L’heureuse annonce« festzumachen. Die Textanalyse ist intellektuell höchst anspruchsvoll, weil die exegetische Arbeit – mit Hilfe der semiotischen Methode – textwissenschaftlich und philosophisch zugleich reflektiert ist. Mit diesem hohen intellektuellen Anspruch ist freilich die Behauptung verbunden, dass sich die (sprachliche und sachliche) Bedeutung des Markusevangeliums letztlich durch dessen Lektüre allein erschließe. Die Frage, mit der Delorme seine Markusinterpretation eröffnet, lautet demnach so schlicht wie grundlegend: »Avez-vous lu Mc?« (I: 15)
Simon J. Gathercole, Reader in New Testament Studies an der Universität Cambridge, hat mit seiner Studie aus dem Jahr 2006 einen Entwurf zu einer synoptischen Christologie vorgelegt. Im Unterschied zu vergleichbaren Untersuchungen zur neutestamentlichen Christologie oder christologischen Hoheitstiteln (z. B. F. Hahn – wird in der Bibliographie nicht angeführt) sucht Ga-thercole speziell nach einer Präexistenzchristologie in den synoptischen Evangelien, die er insbesondere an den zehn »Ich bin ge?kommen«-Worten (83–189) festmacht – die Untersuchung von Mk 1,38 etc. (Übersicht: 84 und 148 ff.) erfolgt in den relevanten literatur- und religionsgeschichtlichen Kontexten seit dem Danielbuch (113–147). Gathercole hält das Vorkommen von Präexistenz-Vorstellungen bereits im frühesten Christentum für »highly plau-sible« (23), lässt aber offen, was genau er unter »Präexistenz« versteht, wie schon J. D. G. Dunn in seiner Rezension kritisch be?merkt hatte (RBL 04/2007): Gathercole spricht eher von »heavenly and divine contours of Jesus’ identity« (23 und schon 17) und nimmt die Beobachtung, dass eine »growing school of thought […] acknowledging that the portrayal of Christ in the Gospels« ebendiese Konturen zeige, als Anlass für eine »reconsideration of pre-existence in Matthew, Mark, and Luke« (17). Gathercole beginnt bei seiner Sicht auf frühchristliche Präexistenzvorstellungen mit Phil 2,6 ff. – einem Text, der allerdings hinsichtlich einer möglichen Präexistenzchristologie mehr als umstritten ist (so auch von Gathercole eingestanden: 24 ff.).
Indem Gathercole bei seiner Suche nach einer synoptischen Präexistenzchristologie von einer »analogy of the ›coming‹ and the ›sending‹« ausgeht (188 u. ö.), betrachtet er die synoptischen Evangelien letztlich im Lichte johanneischer Christologie. Sucht er implizit also nach einer »Evangelienharmonie« (vgl. auch 295: »The Synoptic Gospels and John«)? Gathercoles Monographie ist letztlich einer theologischen, genauer: präexistenzchristologischen These verpflichtet (s. auch besonders 284 ff.), die er zum Schluss seiner Studie (231 ff.) sogar im Blick auf die Verwendung der vier zentralen christologischen Titel in den synoptischen Evangelien – »Messiah …, Lord …, Son of Man …, Son of God« – konsequent weiter auszuarbeiten sucht. Besonders bei der Verwendung des Gottes-Sohn-Titels (272 ff.) wird das »›sending‹ theme«, das laut Gathercole schon den »›I have come‹ sayings« zugrundeliegt, wiedererkannt (s. auch 283 und 294 f.). Die Suche nach einer synoptischen Präexistenzchristologie wird im Ergebnis durchaus ergiebig abgeschlossen.
J. Andrew Doole (geb. 1984 in Belfast) ist seit 2015 Universitätsassistent in Innsbruck. Die vorliegende Monographie ist seine Dissertation, die während seines Promotionsstudiums in Marburg (2007–2011) – noch unter Betreuung des viel zu früh verstorbenen Kollegen Friedrich Avemarie – entstanden ist. Doole setzt bei der redaktionsgeschichtlichen Methode an, deren Forschungsgeschichte im Blick auf die Matthäusexegese er eingangs – leider nur – skizzenhaft darstellt (4–10). Die seine Untersuchung leitende, ebenso simple wie instruktive Frage: »What was Mark for Matthew?« bearbeitet Doole in dreifacher Hinsicht diachron: Erstens vergleicht er die matthäische Bearbeitung des Markusevangeliums mit dem Umgang des ersten Evangelisten mit seinen übrigen Quellen (Q, M, »Jewish Scriptures«: 14–46) und folgert, dass »Matthew’s project […] first of all the integration of Mark and Q« umfasst (46). Zweitens bietet Doole eine redaktionskritisch geleitete, nun am Aufbau des Matthäusevangeliums orientierte Übersicht über die Verwendung von Markus und Q in Mt 3–11 (47–80) einerseits und Markus in Mt 12–28 (81–128) andererseits. Er findet bei Matthäus eine ausgeprägte »loyality to Mark« (128), so dass er das Matthäusevangelium insgesamt als eine »New Edition of Mark« (ebd.) be?zeichnet. Drittens bezieht Doole die antiken scribal practices (129–174) in materialer, technischer und kompositorischer Hinsicht in seine Überlegungen zu Matthäus als »Conventional Evangelist« (173) produktiv mit ein. Als Rezipient seiner Quellen und Kompositeur einer Evangelienschrift kommt Matthäus damit gleichberechtigt neben hellenistisch-römischer und hellenistisch-jüdischer (religiöser) Autoren- oder besser: Editorenliteratur wie auch anonym verfassten Texten (Tempelrolle) zu stehen. Die Text- und Autorenvergleiche, die in großen Teilen durch Diskurse in der exegetischen Sekundärliteratur angeregt sind, werden insgesamt der Frage untergeordnet: »Is my portrait of Matthew at work edit-ing Mark credible within the context of contemporary redactional methods?« (129)
Die Monographie ist klar gegliedert und geschrieben. Doole scheut nicht den Umgang mit deutschsprachiger Literatur. Er bearbeitet eine – wie es zunächst scheint – konventionelle Frage der redaktionsgeschichtlich geleiteten Evangelienexegese, tut dies aber in erster Linie so, dass er – in instruktiver Weise und unter Kritik etablierter Forschungsparadigmen – den Fokus von der ›Differenz‹ hin auf die ›Kohärenz‹ von Markus und Matthäus lenkt und dabei zugleich Unterschiede zur Rezeption des Markus bei Lukas festhält: Während Lukas (Lk 1,1–3) offensichtlich seine »dissatisfaction with earlier works« zu erkennen gebe (193), ermögliche Matthäus – laut Doole – mit seiner Form der Loyalität und editorischen Neubearbeitung des Markusevangeliums erst dessen Entwicklung h in zu »new editions« (194). Welche »editions« – außer dem Matthäusevangelium selbst – hiermit konkret gemeint sind, bleibt offen. Wie Doole den redaktionellen Umgang des Matthäus mit Markus bewertet, ist für die Sicht auf die frühe Rezeptionsgeschichte des Markusevangeliums anregend: Demnach hat Matthäus Markus nicht primär verdrängt, sondern diesen erst – als dessen »Erbe« (»Matthew is the heir of Mark«, 196) – hin zu einem »work of literature« (ebd.) weiterentwickelt. Denn: »Matthew adopts from Mark the story, if not the story-telling« (11 f.). Wieweit die im Ergebnis behauptete (traditionsgeschichtliche und literarische) Kontinuität von Markus zu Matthäus den Quellenverarbeitungsprozessen im frühesten Christentum ausgewogen entspricht oder ihrerseits nur die eine Seite der Medaille – eben die der Kohärenz erklärt –, bleibt weiter zu diskutieren. Die Monographie selbst unternimmt keine eigenen Anläufe zu einer möglichen Selbstkritik, sondern bleibt ihrer Kernthese – der »proximity« des Matthäus zu Markus – beständig verpflichtet.
Abschließend lässt sich am Beispiel der hier vorgestellten Monographien erkennen, wie breit gefächert und weit verzweigt sich die Markusforschung im weiteren Sinne darstellt. Die Wahl der Me?thoden korrespondiert den leitenden Erkenntnisinteressen – seien diese philologisch, historisch, literaturgeschichtlich oder theologisch bestimmt. Um zu vermeiden, dass die verschiedenen, teils eher diachron, teils synchron geleiteten Erkenntnisinteressen zu erratischen und tendenziell exklusiven Forschungsparadigmen führen, ist eine Verständigung über die Grundfragen und -methoden der Markus- und/oder Synoptikerexegese hilfreich: Was können, was müssen und was wollen wir über Markus (und die Seitenreferenten) wissen? Delorme beschreibt letztlich den inneren Zusammenhang von markinischem Text und christlicher Theologiebildung als Deutungsprozess, Gathercole trägt eine eher dogmengeschichtlich motivierte Frage an die synoptischen Evangelien heran, und Doole untersucht frühchristliche literarische Kompositions- bzw. Editionsprozesse. Die verschiedenen Erkenntnisinteressen führen im praktischen Vollzug der Textauslegung zu unterschiedlichen Sichtweisen auf das Markusevangelium. Für Delorme ist die Diskurshaftigkeit des Textes, aus der »parole« entsteht, von Bedeutung, Gathercole fragt nach dem christologischen Propositionalgehalt der synoptischen Evangelien, und Doole bewertet die narrative Leistung des Markus im Lichte seiner frühen Rezeptionsgeschichte.
Eine mögliche theoretische Verbindung dieser im Kern äußerst verschiedenen Ansätze und Erkenntnisinteressen kann nur in der hermeneutisch wertvollen Einsicht liegen, dass eine Schrift wie das Markusevangelium grundsätzlich ein offener Text ist, der eine nahezu unbegrenzte Fülle an Fragen und Modellen der Interpretation ermöglicht. Diese Einsicht ist keineswegs banal, sondern erlaubt erst einen von produktiver Neugier motivierten Austausch und methodischen Diskurs über den Text und seine Auslegung: in der Markusforschung selbst und weit darüber hinaus.