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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

56–57

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schroeder, Joy A. [Transl. and Ed.]

Titel/Untertitel:

The Book of Genesis.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2015. X, 307 S. = The Bible in Medi-eval Tradition. Kart. US$ 35,00. ISBN 978-0-8028-6845-9.

Rezensent:

Georg Fischer

Anliegen dieser Reihe ist es, bezüglich der mittelalterlichen Exegese den beiden Gefahren ›Vergessen‹ und ›Nostalgie‹ entgegenzutreten – so schreiben die Herausgeber Krey, Levy und Ryan in ihrem Vorwort (VIII). Schon früher sind zwei Bände in »The Bible in Me?dieval Tradition« erschienen, einer zum Galaterbrief (2011) und einer zum Römerbrief (2013).
Die Übersetzerin und Herausgeberin dieses Bandes zur Genesis ist Professorin für Kirchengeschichte am Trinity Lutheran Semi-nary. In ihrer Einleitung (1–41) weist sie darauf hin, dass mittelalterliche Kommentatoren vielfach dieselben Beobachtungen und Fragen in Bezug auf Nahtstellen, Wiederholungen, scheinbare Widersprüche usw. bei den Texten gemacht und gestellt haben wie in der modernen Literarkritik (2), ein Anzeichen für die bleibende Aktualität ihrer Arbeiten. Sie sahen allerdings die Verfasstheit der biblischen Bücher stärker als göttliches und menschliches Zusammenwirken an, als dies heute bei vielen der Fall ist (3).
Das Buch enthält eine Sammlung von Auszügen aus christlichen mittelalterlichen Kommentaren. Eine Ausnahme davon sind jene vier ausgewählten Antworten, die Hildegard von Bingen auf an sie gerichtete Anfragen von Benediktinermönchen in Villers geschrieben hat (auf die Fragen 7–10, zu Gen 9,5–6 sowie dreimal zu Abraham; 123–126). Diese Texte sind auch die einzigen, für die bereits eine neuere englische Übersetzung vorliegt (7, mit Anm. 15); alle anderen Werke sind hier in Auszügen erstmalig ins Englische übersetzt. Als Textgrundlage verwendet Schroeder die entsprechenden Ausgaben des Corpus Christianorum Continuatio Medi-aevalis (CCCM) bzw., wo diese nicht vorlagen, die Patrologia Latina oder andere Editionen (8). Sie hat sieben Autoren ausgesucht, um Einblick zu geben in die Vielfalt mittelalterlicher Genesisdeutungen. Sie setzt ein mit Remigius von Auxerre im 9. Jh. und endet mit Dionysius dem Kartäuser im 15. Jh. Dazwischen finden sich Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen – als einzige Frau –, Andreas von St. Victor, Petrus Comestor und Nikolaus von Lyra. Auf im Durchschnitt vier Seiten führt S. in deren historisches Umfeld und die Hintergründe ihrer Auslegung ein (11–38). Am Ende der Einleitung kommt sie noch auf die Verszählung (39) und ihre Anliegen in der Übersetzung zu sprechen, u. a. auf »gendered language« und Lesbarkeit zu achten (39–40).
S. präsentiert die Auslegungen dieser Autoren nicht parallel, sondern ›fortlaufend‹: So kommt Remigius mit Gen 1–3 zum Zug (42–85). Rupert von Deutz folgt mit Gen 4–8 (86–122), danach kurz Hildegard (s. o.). Andreas von St. Victor bringt die Deutung von Gen 9–30 ein (127–170), darauf Peter Comestor jene von Gen 31–41 (171–189). Den Abschluss bilden Nikolaus von Lyra zu Gen 42–46 (190–221) und Dionysius der Kartäuser zu Gen 47–50 (222–281). Bibliographie und drei Register, zu Namen, Stichworten und Bibelstellen, beschließen den Band. Diese Darstellung hat den Vorteil, auf begrenztem Raum doch eine repräsentative Auswahl von verschiedenen Autoren, noch dazu aus über einem halben Jahrtausend, lesen zu können. Auch ermöglicht sie, das gesamte Buch Genesis in den Blick zu nehmen. Allerdings ist damit verbunden, dass die Auslegungen der einzelnen Autoren nicht vergleichbar sind bezüglich einer Einzelstelle, z. B. zu einem heiklen Text wie die Bindung Isaaks in Gen 22.
Die Interpretationen der mittelalterlichen Kommentatoren sind für die heutige Exegese von unterschiedlichem Wert. Kaum aufnehmbar sind die Aussage, bereschit bedeute »Genesis«, oder, dass Gen 1,1 als Schöpfung »aus dem Nichts« zu verstehen sei (Remigius, 42–43). Dass Kain bei seinem Opfer in Gen 4,3 etwas für sich zurückbehalten habe (Rupert von Deutz, 87), dürfte ebenso in den Text hineininterpretiert sein wie die Deutung des Eides von Abrahams Diener in Gen 24,9 als Präfiguration der heiligen Menschheit Christi (Hildegard, 125). Abrams Anweisung an seine Frau in Gen 12,13, sich als seine Schwester auszugeben, soll keine Lüge sein (Andreas von St. Victor, 137), usw. Diese und andere Interpretationen lassen sich in der Gegenwart kaum mehr halten. Auf der anderen Seite gibt es, z. B. vom gerade zuletzt genannten Autor, auch zutreffende Beobachtungen wie die Bemerkung zu Gen 21,14, der Name »Beerscheba« sei dort proleptisch (154): Tatsächlich wird er erst in 21,31 erklärt und in seiner Bedeutung eingeführt.
Insgesamt entsteht bei diesen Kommentierungen zum Buch Genesis ein gemischter Eindruck. Es ist eine Leistung von S., diese wenig bekannten Auslegungen aus der Zeit zwischen den Kirchenvätern und der Reformation zugänglich gemacht zu haben. Doch dürften die obigen Beispiele klargemacht haben, dass es für deren Verwendung heute viel zu sichten und zu ›sieben‹ gibt, was bleibend brauchbar sein kann. Hier wären auch, über die knappen Einführungen in die ausgewählten Autoren in der Einleitung hinaus, an den Enden ihrer jeweiligen Vorstellungen Einschätzungen und Stellungnahmen der Herausgeberin zu deren exegetischem Wert erwünscht gewesen. Weil diese fehlen, entstehen am Schluss der Eindruck einer Leere und die Frage, ob sich der Aufwand der Beschäftigung damit lohnt.