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Ausgabe:

November/1999

Spalte:

1117 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ayuch, Daniel Alberto

Titel/Untertitel:

Sozialgerechtes Handeln als Ausdruck einer eschatologischen Vision. Zum Zusammenhang von Offenbarungswissen und Sozialethik in den lukanischen Schlüsselreden.

Verlag:

Altenberge: Oros Verlag 1998. XII, 230 S. 8 = Münsteraner Theologische Abhandlungen, 54. ISBN 3-89375-166-1.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Bei allen Kontroversen um den Evangelisten Lukas ist in den letzten Jahren doch eines zunehmend deutlicher erkannt worden: Eine sachgemäße Auslegung kann nur dann erfolgen, wenn beide Teile des Doppelwerkes als zusammengehörige große Einheit verstanden werden. Zuletzt hat Karl Löning diese Einsicht in seiner auf drei Bände angelegten Kommentierung "Das Geschichtswerk des Lukas" (Bd. I: 1997; vgl. ThLZ 123, 1998, 480-481) entfaltet, indem er Evangelium und Apostelgeschichte als zwei Handlungszüge eines erzählerischen Gesamtzusammenhangs zur Darstellung bringt. Bei einer konsequent synchronen Textlektüre treten dabei Stiftung und Bezeugung jenes Wissens, das die christliche Identität begründet, als die wesentlichen Anliegen lk Theologie hervor.

Diesem Ansatz ist D. A. Ayuchs Untersuchung verpflichtet, die 1998 als Dissertation bei Karl Löning in Münster vorgelegt wurde. Auch A. betont den ätiologischen Charakter des lk Doppelwerkes im Hinblick auf christliche Identität und beschreibt seinen Inhalt als "eine Geschichte der Kommunikation, in der heilstragendes Wissen von den Boten Gottes zum Volk übertragen wird" (1 f.). Wie der Titel schon andeutet, stehen zwei Fragen im Mittelpunkt: In welchen Kontext fügen sich solche wissensätiologischen Intentionen ein? Und was bedeutet dieser Sachverhalt für das zentrale Thema sozialgerechten Handelns? Beide Fragen werden in einem Einleitungsteil forschungsgeschichtlich aufbereitet mit dem folgenden Ergebnis: Die kommunikative Begründung von Offenbarungswissen ist im Lichte weisheitlicher Traditionen, besonders der apokalyptischen Weisheit, zu beurteilen, wodurch auch die lk Ethik bereits deutlich in eine eschatologische Spannung rückt. Betont setzt sich A. deshalb von der klassischen Sicht H. Conzelmanns ab, der die lk Ethik vor allem als Resultat einer sich dehnenden Zeit und einer Anpassung an veränderte Bedingungen verstand. Für A. ist sozialgerechtes Handeln "Ausdruck einer eschatologischen Vision" und steht ganz im Lichte der kommenden Gottesherrschaft. Textbasis für die Untersuchung dieses Zusammenhanges sind drei sogenannte "Schlüsselreden": Lk 3,7-18 (Predigt des Täufers Johannes), Lk 6,20-49 (Feldrede Jesu) und Act 20,17-38 (Abschiedsrede des Paulus). In allen drei Reden, von maßgeblichen Protagonisten gehalten und an Schaltstellen des Doppelwerkes plaziert, komme das hier zugrundeliegende sozialethische Modell auf besonders aussagekräftige Weise zum Ausdruck. Eine erste Durchsicht führt zu der Arbeitshypothese, daß die Sozialethik des Lukas nur dann funktioniere, wenn man um die kommende Aufrichtung der Gottesherrschaft wisse und aufgrund der neuen, offenbarten Maßstäbe die Barmherzigkeit Gottes hier und jetzt zu gestalten versuche. In einem zweiten Teil werden die genannten "Schlüsselreden" dann einer eingehenden Analyse unterzogen. Methodisch bestimmend ist dabei wiederum die synchrone Lektüre, die zunächst mit einer Segmentierung aller drei Reden einsetzt. Abgrenzung, Gliederung, syntaktische Analyse, narrative und semantische Beobachtungen führen dann jeweils in gleicher Schematik bis zur abschließenden Textsortenbestimmung. Ein dritter Teil gilt der gemeinsamen pragmatischen Lektüre aller drei Reden, während ein vierter Teil eine thematische Bündelung der Leitmotive lk Sozialethik vornimmt, wie sie in den vorausgegangen Analysen sichtbar geworden waren.

Insgesamt gelingt es dieser Untersuchung, das Anliegen "sozialgerechten Handelns" bei Lk in einer anderen als der heilsgeschichtlichen Perspektive zu erfassen. Dabei treten manche Züge stärker hervor, die sonst eher im Hintergrund stehen. So wird etwa die Aufmerksamkeit auf den weisheitlichen Charakter der jeweiligen Protagonisten in den "Schlüsselreden" gelenkt, die nach A. vor allem als Offenbarungsträger und Lehrer gezeichnet sind. Lk 3 wird als Lehrgespräch, Lk 6 als Lehrrede, Act 20 als Paideutikon und Abschiedsrede bestimmt. Zugleich wendet sich A. kritisch gegen jene Position, die Lukas von der urchristlichen, speziell der pln Verkündigung abrückt und mit dem Etikett "frühkatholisch" versieht. Lukas erscheint nun gerade in seinen sozialethischen Grundlinien als Vertreter urchristlicher Theologie, die von der Verkündigung der kommenden Gottesherrschaft bestimmt bleibt. Diese Sicht kann um so deutlicher entwickelt werden, als die Frage nach Tradition und Redaktion bewußt ausgeblendet wird. Der Täufer, Jesus und Paulus agieren auf der Bühne des lk Geschichtswerkes gemeinsam und als Teil jenes Kommunikationsprozesses, der zwischen dem Autor und seinem Lesepublikum abläuft. So stark wird ihre analoge Aufgabe empfunden, daß A. selbst den Täufer in die (bei Lukas ansonsten sehr spezifisch bestimmte) Zeugenfunktion mit einbeziehen kann. Entwicklungslinien oder historisch bedingte Akzentsetzungen, die auch bei Lukas immer wieder anklingen, spielen hierbei keine Rolle.

Fragen bleiben da vor allem im Detail wie in methodischer Hinsicht. Kann man z. B. bei einer Analyse der Feldrede den Rückbezug auf Q tatsächlich so völlig unberücksichtigt lassen? Matthäusparallelen kommen allein in kurzen Seitenblicken zur Sprache. Gegenüber einer Reihe von tabellarischen Übersichten zur Wortstatistik werden traditionsgeschichtliche Belege nur in Auswahl genannt. Aber gerade bei dem Gebot der Feindesliebe etwa kann es nicht genügen, nur einige wenige Belege aufzuführen und daraufhin zu konstatieren, sie sei keine "rein christliche" Errungenschaft. Hier bedürfte es doch sorgfältigerer Vergleiche. Für die Goldene Regel wiederum vermißt man eine Zuordnung, die über den lk Kontext hinausgeht - weder das reiche traditionsgeschichtliche Material noch seine lange und intensive Diskussion finden Erwähnung. Häufig bleiben die semantischen Analysen hinter bereits bekannten Einsichten zurück. So liegen wichtige Einsichten eng neben manchen Untiefen, an denen eine stärkere Profilierung und methodische Aufweitung wünschenswert wären.

Im Ganzen bietet die Arbeit einen schlüssigen Entwurf zum lk Modell christlicher Sozialethik. In der Begründung bezieht sie eine Gegenposition zu jener Sicht, die seit Conzelmann die Diskussion wesentlich prägte. A. hat einen Beitrag geliefert, der in der gegenwärtigen Bewegung um die Auslegung des lk Doppelwerkes Aufnahme und Diskussion finden wird.