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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

53–56

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruwe, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Du aber bist es, ein Mensch meinesgleichen (Ps 55,14). Ein Gespräch über Psalm 55 und seine Parallelen. M. Beiträgen v. Ch. Hardmeier, M. Köhlmoos, M. Millard, M. Rohde, A. Ruwe u. B. Weber.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. VII, 270 S. = Biblisch-Theologische Studien, 157. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-2989-9.

Rezensent:

Erhard S. Gerstenberger

Eine Autorin und vier Autoren untersuchen – aus unterschiedlichen Blickwinkeln, aber fokussiert auf Christof Hardmeiers »Lesehermeneutische Sinnerschließung von Psalm 55« (1–81) – dieses exemplarisch schwierige Klagelied eines Einzelnen. Der Greifswalder Altmeister führt die in seinem zweibändigen Grundlagenwerk »Textwelten der Bibel entdecken« (Gütersloh 2003 und 2004) dargelegten Prinzipien vor. So geschehen im 11. Greifswalder Methodenworkshop im Frühjahr 2011. Vier der versammelten Respondenten (83–189) haben ihre Beiträge beim Urereignis vorgetragen. Der fünfte Aufsatz (191–267) ist später abrundend hinzugekommen.
Für Hardmeier ist der Text nur anhand seiner Oberflächengestalt (grammatische Markierungen) und seiner kommunikativ-pragmatischen Intention zu verstehen. Dazu braucht es eine sorgfältige Untersuchung der sichtbaren Strukturelemente, gleichsam eine »Partitur«, die der Exeget »durchspielen« kann. Eine solche »Road- map« von Psalm 55 hat der Autor auf S. 4–7 seinen Erörterungen vorangestellt. Das fein ausgeklügelte, durch farbige und umrandete Differenzierungen eindrückliche Ordnungssystem unterscheidet u. a. die »interaktiven Handlungskomponenten« (Personen; verbale Modi; Emphasen, 8), die »temporale[n] Orientierungskomponente[n]« und die »argumentative Handlungskomponente« (Satzmodi; Satzverknüpfungen; Konjunktionen; Infinitiv-Constructus Bildungen, 9). Die grundlegende Bedeutung dieser »Partitur« für den exegetischen »Lese«prozess wird in einem ersten Paragraphen (10–28) auf gezeigt: Vor der semantischen Interpretation sind unbedingt die meist ignorierten kommunikationspragmatischen Orientierungen im Text zu beachten. Sie dienen wie Piktogramme im öffentlichen Leben heute der allgemeinen Wegbeschreibung, geben also die Richtung vor, in welcher Exegese voranschreiten soll.
Die Hauptabschnitte II–IV (28–76) der Hardmeier’schen Studie explizieren die Leseschritte im konkreten Fall von Psalm 55 auf den verschiedenen Kommunikationsebenen. Sprecher, Sprecherwechsel und Intention sind nicht immer eindeutig auszumachen. Der Autor erkennt aber den fortschreitenden, in sich weiter gegliederten Klage- und Bittprozess (V. 2–16 und 17–24) eines bedrängten und geretteten Beters im Dialog mit Gott, einer Zuhörerschaft und Gegnern. Die »primäre Not« ist »seine innere Verwirrung« (44). In V. 5–9 entfaltet sich eine »Leid- und Befindlichkeitsklage«; sie kann »nicht – wie es in der Forschung üblich ist – als Feindklage betrachtet werden« (49). Hinzu kommt die »Bekümmernis« des Beters »über die schwer zerrütteten sozialen Verhältnisse in seinem Wohnumfeld« (V. 10b–12; 51). Obwohl er sich über die Machenschaften der Feinde entrüstet und »die Vernichtung ihrer bösen Zungen erbittet«, »handelt es sich bei Psalm 55 um die Textpartitur einer sehr persönlichen Leidklage« (52). Der »Kern der persönlichen Seelennot des Beters« (Überschrift zu 53–64) ist aber das Verhalten des treulosen Freundes (V. 13–15), dessen Verhalten er in »innere[r] Rede« gedenkt (55). Sein »engster Freund, mit dem er eigentlich eine innig vertraute Gemeinschaft pflegt« hat ihn »offenbar noch tiefer verletzt und gekränkt […] als die Beleidigungen und Herabwürdigungen der persönlichen Feinde« (60) und eine »bodenlose Erschütterung« sowie eine »tiefe Vertrauenskrise« (61.63.64) heraufbeschworen.
Die »Lesedurchgänge« (64) des zweiten Hauptteils (V. 17–24; 64–76) führen zu der Erkenntnis, dass sich der Beter – in einigen abrupt wechselnden Teilreden – zur Hoffnung auf den rettenden Gott hindurcharbeitet. Dieses Psalm-Stück ist keineswegs die »nahtlose Fortsetzung der Leidklage von V. 2–16«, sondern die »Betrachtung des Beters über die Wirkungen des zitierten Gebets« (67). Der enigmatische Vers 23 ist ein zynischer Rat des verräterischen Freundes. Er beinhaltet dessen »Weigerung […], sich der schweren Not des Beters anzunehmen und sein Leid im empathischen Zuhören mitzutragen« (73). So führt der Text selbst den heutigen Leser zum Vertrauensbekenntnis V. 24, dem »Zielpunkt der Rückschau (V. 7–23) und Abschluss des ganzen Psalms« (74–76). Psalm 55 ist also nach Hardmeier das »Vertrauenslied« eines konkreten Menschen (76–79), genauer: die »Textpartitur eines Vertrauenspsalms mit ausgeprägtem Lehrcharakter […], der als Zeugnis des geheilten Beters auf die Erfüllung seiner re-zitierten Leidklage zurückblickt« (79).
So tiefgründig und gegenwartsbezogen (und darum überzeugend!) Hardmeiers Exegese erscheinen mag, eine Grundfrage ist nicht zu vermeiden: Dürfen wir den einzelnen Psalm auf das Schreibprodukt eines Verfassers (= Beter?) reduzieren, der seinen Lesern grammatische Verständnisanleitungen gibt? Stammt das Klage- und Hoffnungspotenzial aus der Erfahrung nur einer be?stimmten Biographie? Stellt die Abfolge der »Teilsequenzen« (Bitte, Klage, Vertrauensäußerung usw.) einen logischen Aufbau dar, der in V. 24 mit dem Gattungsmerkmal »Vertrauenslied« endet (vgl. 76: Der Abschluss verleiht »den Primärcharakter eines performativen Vertrauensgebets mit lehrhaften Zügen«)? Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die alt-tes?tamentlichen Psalmen in der Antike und bis heute in erster Linie nicht als individueller Lesestoff dienten, sondern – z. B. in der Hand von Liturgen oder Ritualexperten – als Textsammlungen (analog zu unseren Gesangbüchern, Agenden, Missalen), aus denen geeignete Stücke für den rezitativen, kommunalen Gebrauch ausgesucht wurden und werden. Ein solches Verwendungsmodell macht die »Klagelieder des Einzelnen« zu agendarischen Gebeten, die ein Kasualpraktiker (wie Asaph, Korach usw.?) dem Patienten verordnet und deren Wortlaut, nicht seine Schriftgestalt, zählt. In babylonischen Be?schwörungsriten findet sich die Anweisung: »Lass N. N. sprechen«, und dann folgt das »Individualgebet«. Die hebräische Notation lamna??ea? (»für den Chorleiter«?) könnte darauf hinweisen. In jedem Fall beeinflusst der gedachte und postulierte »Sitz im Leben« stark die Exegese eines gegebenen Psalms.
Die fünf folgenden Beiträge stellen den Grundansatz Hardmeiers nicht in Frage, diskutieren aber aus unterschiedlichen Gesichtswinkeln Detailerkenntnisse und -voraussetzungen.
Melanie Köhlmoos vergleicht Psalm 55 mit Hiob 3–31. Trotz einer gewissen Affinität beider zueinander (»geringfügig kontextualisierte Sprechhandlungen«; »personales Dreieck [Hiob bzw. Beter/Gott/Freunde]«; »Notlage«, 85) ist ihre Pragmatik grundverschieden: Die Redewechsel Hiobs und seiner Gefährten sind echte Dialoge, darin eingestreut Gebetsabschnitte des Protagonisten. Psalm 55 dagegen ist – so Köhlmoos – durchgehend »monologisch« (88) bzw. als »monologische Gebetsreflexion« (89) konstruiert. Diese Analyse setzt allerdings voraus, dass V. 23 nicht zynischer Rat eines Pseudo-Freundes, sondern besorgte Belehrung des teilnehmenden Publikums durch den Beter ist (90–92.101). Bei ganz unterschiedlichen Ausgangslagen und Argumentationsmustern im Buch Hiob und in Psalm 55 konvergieren beide Texte »darin, dass nur Gott selbst die Lösung bieten kann« (102).
»›Höre doch, Gott, mein Gebet‹ (Ps 55,2). Deutungsvielfalt und der Trend zur Vereindeutigung schwieriger biblischer Texte« überschreibt Matthias Millard seinen Aufsatz (107–133). Textkritische, semantische, kompositorische, gattungsgeschichtliche Probleme trüben den Blick auf das Klagelied. Septuaginta-Version (vgl. 126 f.) und poetologische Analyse (Letztere 117–126) führen nicht wirklich weiter. Die Schlussfolgerung klingt ein wenig entnervt: »Der Psalm beschreitet […] einen komplizierten Weg, der sich nicht immer klar nachvollziehen lässt und sich in einer verworrenen Gliederung und einer nicht ganz klaren Zitation spiegelt. […] Er spiegelt vielleicht auch gerade darin ein Gebet, weil er eine Sprachbewegung vollzieht und eben nicht einer reinen, klaren Form entspricht.« (131)
Eine gewagte Frage stellt Michael Rohde: »Gott als Freund-Feind in Ps 55? Erwägungen zu Ps 55,21« (135–145). Sprache und Duktus von Ps 55,20 f. legen im Hebräischen (anders in der Septuaginta-Version!) ein Verständnis nahe, das Gott selbst zum Opponenten des Beters macht: »Er hat Hand angelegt an seine Vertrauten …« (137). Die »Ambivalenz des Gottesbildes« ist »absichtliche Leseführung« (143). »Im zwischenmenschlichen Feind, der ein Freund gewesen ist, (kann) auch Gott zum Freund-Feind werden […]« (144). Hardmeiers Roadmap erweist sich also wie so viele gut gemeinte wissenschaftliche Blaupausen als durchaus ambivalent.
Andreas Ruwe entwickelt eine interessante These von der »Dynamik des Klageprozesses« (vgl. 186): »Vertrauenszuwachs in der Klage. Zu Gliederung und Aussagegefälle von Psalm 55« (147–189). Ausgehend von Hardmeiers »Minimalsequenzen« (elementare Sinneinheiten) unterscheidet er neun solcher Textbausteine (149–158), deren Hauptprobleme in der »unvermittelt veränderten Redeausrichtung, im schwierigen Tempus- und stellenweise unübersichtlichen Pronomengebrauch« liegen (159). Die kompositionelle Grobgliederung des Psalms entspricht der Hardmeiers (159–165). Entscheidend ist die Untersuchung des Aussagegefälles von Psalm 55 (165–186). »Nur der Abschnitt V. 2–16 ist als Klagegebet zu bezeichnen.« (166) V. 17–23 dagegen ist »Reflexionssequenz« (174–186), die mindestens in V. 17–20 »von der Thematik ›Vertrauen auf Gott‹ beherrscht wird« (178). »Zwar hat Gott das Ich bereits befreit (V. 18b–19). Die Widersacher sind gleichwohl nicht verschwunden. Das reflektierende Ich […] konstatiert vergangene Rettungserfahrung und gewinnt daraus Vertrauen in die künftige ›Erledigung‹ der Widersacherproblematik durch Gott.« (177) Ruwe sieht also in Psalm 55 einen »Klageprozess […]« (186; gut so), den er ohne weitere Begründungen als »Zunahme/Zuwachs an Vertrauen« qualifiziert (vgl. 178.183.185.186). Gibt es überhaupt eine quantifizierende Vorstellung vom Gottvertrauen im Psalter oder in der Hebräischen Bibel?
Den Schluss des Buches bildet Beat Webers wichtige Materialsammlung zum verhandelten Hauptthema: »›Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott!‹ Direkte Rede von und an ›Widersacher[n]‹ in den Psalmen« (191–267). Für das Verständnis von Psalm 55 ist diese Gesamtübersicht außerordentlich nützlich. Selbst der Fachmann staunt über die Menge derartiger Zitate: »28 Psalmen« haben »Worte von«, »18 Psalmen … an Widersacher«, »5 Psalmen bieten … Adressierungen in beiden Rederichtungen« (254: insgesamt 41 Texte). Weber listet sie sorgsam nach Dreifach-Schema (Übersetzung; Charakterisierung; Fazit) auf (199–253). Die kurze Auswertung des Materials (253–265: Verteilung der Fälle über die Psalmenbücher; Kommunikationspartner; Redeabsichten; Sitz im Leben; Stilmittel) lässt ahnen, dass die Redezitate in den Psalmen eine mehrschichtige Bedeutung haben. Im Blick auf Psalm 55 stellt Weber fest: Die doppelte Redekonstellation V. 16; 23 ist keineswegs analogielos und verweist auf Ps 22,9 (Sarkasmus!) und 41,6–10 (265).
Alles in allem ist der Sammelband ein spannendes Werkstück konkreter, von einem Team geleisteter Psalmenexegese, das in den Einzelheiten und im Grundsätzlichen tiefe Einblicke gewährt sowie Fragen aufwirft und so die Arbeit am Psalter weiterbringt.