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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

51–53

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Graupner, Axel, u. Manfred Oeming [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Welt ist in Verbrecherhand gegeben? Annäherungen an das Theodizeeproblem aus der Perspektive des Hiobbuches. M. Beiträgen v. J. Flebbe, A. Graupner, K. Günther, J. Korneck, M. Oeming, D. Renz, H. Rosenau, R. M. Wanke.

Verlag:

Göttingen (Neukirchen-Vluyn): Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2015. 222 S. = Biblisch-Theologische Studien, 153. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7887-2892-2.

Rezensent:

Markus Witte

Seit dem Aufkommen des Begriffs »Theodizee« wird das Buch Hiob immer wieder als solche bezeichnet. Auch der vorliegende Sammelband verbindet beide Größen miteinander. Dabei dient der schon philologisch umstrittene Vers Hiob 9,24 (»In die Hand eines Frevlers ist die Erde gegeben, das Gesicht ihrer Richter verhüllt er. Wenn nicht er, wer ist es dann?« – so nach der revidierten Zürcher Bibel) als Motto von acht unterschiedlich angelegten Essays.
Einleitend bietet Axel Graupner, Privatdozent für Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät Bonn, einen paraphrasierenden Durchgang durch das Buch Hiob. Im Mittelpunkt des Beitrags, der auf einen 1997 und 2005 gehaltenen Studientags- bzw. Gemeindeseminarvortrag zurückgeht, stehen die Beschreibung Hiobs als Verkörperung einer radikalen Problematisierung des Ersten Gebots und die These, dass im Hiobbuch die Theodizeefrage zur Frage nach dem Recht prädikativer Gottesvorstellungen umformuliert werde. Eine eigentliche Lösung des Hiobproblems sieht Graupner in der direkten Begegnung mit Gott.
Manfred Oeming, Ordinarius für Altes Testament an der Universität Heidelberg, präsentiert neun Deutungen, die in der Forschung bezüglich des Lernfortschritts der Hiobfigur im Verlauf des Buches vertreten werden: 1) die traditionelle Vorstellung von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang (TEZ) wird aufgegeben, 2) der TEZ bestehe, sei aber undurchschaubar, 3) das nur scheinbar Böse habe auch positive Wirkungen, 4) der Mensch sei fundamental böse, 5) Gott sei nicht allmächtig, 6) Gott sei selbst ein Sünder, 7) der TEZ realisiere sich erst im Eschaton, 8) der TEZ müsse komplexer gedacht werden und 9) angesichts ambivalenter Gotteserfahrungen müsse der Mensch sich selbst weiterentwickeln. Die zuletzt angesprochene These versucht Oeming plausibel zu machen, in?dem er das Buch als eine einheitliche Komposition mit einer Aussageintention zu lesen und dabei den Schluss in Hiob 42,1–6 als Schlüssel des gesamten Buches wahrzunehmen vorschlägt. Den referierten Thesen, denen er beispielhaft jeweils einen Text aus dem Hiobbuch zuweist, gesteht Oeming eine Teilwahrheit zu und identifiziert sie mit Schritten eines »seelsorgerlichen Prozesses«, den Hiob auf seinem Weg der inneren Wandlung durchlaufe (38).
Während Oeming eine ganzheitliche Lektüre des Hiobbuches vorstellt, begibt sich Roger Marcel Wanke, Professor für Altes Testament an der Faculdade Luterana de Teologia in São Bento do Sul (Brasilien), in dessen Literargeschichte und interpretiert es als einen sukzessiv entstandenen Reflexionsprozess. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen von Markus Witte, Wolf-Dieter Syring und Jürgen van Oorschot aufgreifend, führt Wanke das Hiobbuch auf eine ursprünglich selbständige, aus frühnachexilischer Zeit stammende Dichtung, in deren Mittelpunkt die Erfahrung der Verborgenheit Gottes stehe, und eine annähernd zeitgleiche, aber erst sekundär mit der Dichtung verbundene Erzählung, die um die Erfahrung der Gegenwart kreise, zurück. Für die Verbindung beider Kompositionen macht er eine in frühhellenistischer Zeit tätige Redaktion verantwortlich, die sich kritisch mit traditionellen Heilsvorstellungen auseinandersetze. So verortet Wanke diese »kritisch-theologische Redaktion« in einer Zeit der Krise des Kults, der Weisheit und des Rechts und ordnet ihr, neben verknüpfenden Texten in der Erzählung, zahlreiche »nachkultische«, »nachweisheitliche« und »nachrechtliche« Texte in der Dichtung zu. Den Abschluss an der literarisch-theologischen Arbeit am Gottesbild des Hiobbuchs stelle die aus dem 2. Jh. v. Chr. stammende »Elihu-Redaktion« dar, die mittels der Motive vom Geist Gottes, vom Fürbittengel, von der Gottesfurcht, von der Gottesschau und der kreatürlichen Niedrigkeit des Menschen die »kritisch-theologische Redaktion« korrigiere und eine »(Er-)Lösung für das Theodizeeproblem« liefere.
Den Nachzeichnungen binnentextlicher Kommentierungen folgt eine Übersicht buchexterner Auslegungen aus der Feder von Karl Günther, im Ruhestand befindlicher Pfarrer und langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. Beginnend mit dem in Qumran gefundenen (fragmen-tarischen) Targum zum Hiobbuch (2./1. Jh. v. Chr.) und dem frühmittelalterlichen Targum (ohne nähere Bezeichnung?), referiert Günther zunächst über die Hiob-Septuaginta (2./1. Jh. v. Chr.) und das Testament Hiobs (1./2. Jh. n. Chr.) sowie über die Thematisierungen Hiobs im Midrasch und im Talmud. Sodann stellt er die großen mittelalterlichen Kommentare von Saadja Gaon, Rashi, Ibn Esra und Ralbag sowie die Behandlung des Hiobbuchs bei Maimonides vor, um mit Bemerkungen zu kabbalistischen Hiobdeutungen zu schließen. Eingestreut sind Hinweise zu modernen jüdischen, hebräisch oder englisch verfassten Kommentaren, die in der christlichen Exegese zumeist leider kaum be- ?rücksichtigt werden.
Jochen Flebbe unterzieht in seinem 2015 vor der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn gehaltenen neutestamentlichen Habilitationsvortrag den Begriff des TEZ einer kritischen Evaluation und weist exemplarisch nach, dass auch im Neuen Testament die Vorstellung eines von Gott gesetzten inneren Zusammenhangs zwischen Tat und Folge besteht. Der besondere neutestamentliche Akzent liege nicht auf einer grundsätzlichen Außerkraftsetzung des TEZ, sondern auf dessen Verortung in einer Situation nach dem allen Menschen geltenden Heilshandeln Gottes in Jesus Christus.
In dem theologisch tiefgründigsten Aufsatz des Bandes versucht Hartmut Rosenau, Professor für Systematische Theologie an der Universität Kiel, auf den Spuren von Luther, Schleiermacher und Schelling eine Überwindung der Theodizeefrage. Als Vermittlung zwischen personalen und apersonalen Gottesvorstellungen bietet Rosenau die Formulierung »Gott ist nicht Person, aber Grund von Personalität« an (167). Anstelle der traditionellen anthropomorphen Gottesprädikate wie Liebe, Allmacht und Güte, die im Blick auf die Theodizeefrage in die Aporie führten, könne der Begriff der Wahrheit treten: »als Wahrheit ist Gott ›die alles bestimmende Wirklichkeit‹« (168). Eine solche Bestimmung ist, wie die von Rosenau vorgeschlagene Beschreibung Gottes als Phänomen, im Hiobbuch selbst schon angelegt, zumal, wenn man in dem abschließenden Urteil Gottes über die Reden der Freunde und Hiobs in 42,7 das umstrittene Wort nekôn?h mit »wahr« (vgl. LXX: »Wahres«) übersetzt und auf Gott bezieht.
Hat M. Oeming einmal an anderer Stelle das Hiobbuch als »Handbuch der Seelsorge« bezeichnet, so klassifiziert es Eva Jenny Korneck in der Zusammenfassung ihrer religionspädagogischen Dissertation von 2014 als ein »exemplarische(s) Unterrichtsbeispiel in Form einer Erzählung« (201). Selbst wenn die empirische Religionsforschung zeige, dass sich Jugendliche zunehmend von einem theistischen Gottesbild und von der Theodizeefrage abwendeten, sei das Hiobbuch mit seinen Anfragen an die Allmacht Gottes eine »Starthilfe für die eigene religiöse Bildung« sowie für einen dialogischen und vom Subjekt der Schüler ausgehenden Religionsunterricht. Nacheinander spielt Korneck am Buch Hiob die Aspekte der Unterrichtssituation, der Unterrichtsmethode, der Lehrerrolle und des Unterrichtsinhaltes durch, um am Ende das »Theologisieren mit Hiob« als »einen Weg zu religiöser Bildung« zu beschreiben. Die Ebenen zwischen literarhistorischer Analyse und religionspädagogischer Applikation sind dabei nicht immer sauber unterschieden; im Blick auf die kompositionellen Elemente des Hiobbuches und die Lerngruppen, in denen es zur Sprache kommen soll, wäre eine genauere Differenzierung wünschenswert.
Der Band wird mit einer kurzen Predigt von Daniel Renz beschlossen, die dieser als Pfarrer in der evangelischen Landeskirche in Württemberg am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres 2012 gehalten hat, und in deren Mittelpunkt eine Gegenüberstellung des Buches Hiob mit Zitaten aus Esther Maria Magnis Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung (2012) steht.