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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

42–44

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Wolfgang, u. Richard E. DeMaris [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese?

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 412 S. m. 4 Abb. Kart. EUR 49,99. ISBN 978-3-17-021815-4.

Rezensent:

Kristina Dronsch

Auf 410 Seiten haben zwei Schwergewichte der sozialwissenschaftlichen Bibelexegese einen Autorenkreis im Tagungsband »Alte Texte in neuen Kontexten« versammelt, der das internationale Who-is-Who dieses methodischen Zugangs nachzeichnet. Es ist den Herausgebern Wolfgang Stegemann und Richard E. DeMaris ge?lungen, mit dem Sammelband innerhalb der vorliegenden 17 Beiträge die im Untertitel aufgeworfene Frage »Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese?« zu beantworten. Und zwar weniger im Sinne einer trockenen Bilanzierung, sondern vielmehr als Ausweis der Hotspots exegetischer Arbeitsfelder und Themen dieses noch jungen methodischen Zugangs zu biblischen Texten. Mit dem Haupttitel des Bandes »Alte Texte in neuen Kontexten« wollen die Herausgeber das Kernanliegen der sozialwissenschaftlichen Bi?belexegese zum Ausdruck bringen: nämlich die Berücksichtigung der »sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kontexte für das Verstehen« (8) und die Bedeutungsbestimmung der biblischen Texte.
Wer das Inhaltsverzeichnis aufmerksam durchliest, wird schnell gewahr, dass es der Zauber der Unschärfe ist, was sich alles unter dem Sattelbegriff »sozialwissenschaftlich« versammeln kann. Von ritualwissenschaftlichen Betrachtungen, über Fremdheits- respektive Freundschaftsdiskurse, kulturwissenschaftliche, ethnologische Fragestellungen und anthropologische Fokussierungen bis hin zu kognitionswissenschaftlichen Überlegungen reicht die Spanne. Die Beiträge, die auf eine Tagung im Jahr 2009 in der Evangelischen Akademie Tutzing zurückgehen, machen deshalb vor allem deutlich: Wer es ernst meint mit einer sozialwissenschaft-lichen Bibelauslegung, sollte Neugierde mitbringen, sich auf un?bekanntes Neuland von Methoden und Modellen einzulassen. Erleichtert wird dies im vorliegenden Tagungsband, weil alle Beiträge auf Deutsch vorliegen – dank dieser Übersetzungsarbeit sind somit einige Thesen und Positionen der Beiträgerinnen und Beiträger erstmalig in deutscher Sprache zu lesen.
Neben solchen Übersetzungsschätzen lässt der Band entdecken, dass im Unterschied zu einer klassisch historisch-kritischen Exegese eine sozialwissenschaftliche Exegese einer Internationalisierung der deutschen Bibelwissenschaften guttut. Das Paradigma »Ge?schichte«, dem sich alle Beiträge verpflichtet zeigen, zeigt sich so in einem neuen zeitgemäßen Gewand, indem es Fragen nach Gesellschaft und Kultur aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Zugänge mit aufnimmt.
Nach einer Einführung der Herausgeber (5–12), die einen kurzen Abriss über die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Bibel-exegese darstellt, liefert Gabriella Gelardini mit ihrem Beitrag »Religion, Ethnizität und Ethnoreligion. Die Entstehung eines Dis?kurses innerhalb deutschsprachiger historischer Jesusforschung« (13–32) ein Lehrstück zur Konstruiertheit von Jesusbildern innerhalb der Jesusforschung, die durch die Kategorien »Ethnizität«, »Nationa-lität« und »Ethnoreligion« bereichernd zugespitzt wird. Thomas Schmeller trägt mit seinen sozialgeschichtlichen Überlegungen zu den Gegnern im 2Kor zu einer erfrischenden Konfliktlösung im andauernden Streit um die Bestimmung, wer »die Gegner« seien, bei: »Paulus schuf sich die Gegner zu großen Teilen selbst. […] Die Gegner lassen sich nicht greifen, weil es sie nicht gab.« (49)
Den antiken Freundschaftsdiskurs arbeitet detailliert Gary Stansell für die David-Jonathan-Freundschaft heraus (53–84). John H. Elliott zeigt in seinem Beitrag (85–104) anhand des kulturübergreifenden Phänomens des Bösen Blicks auf, dass Bibelübersetzungen Akte der Interpretation sind und als solche aufgrund von Unvertrautheit mit den kulturellen Kontexten der Entstehungszeit der biblischen Texte »die Bedeutung, Logik, und implizierten sozialen Verflechtungen der Originaltexte nicht adäquat widerspiegeln« (101). Ebenfalls auf sinnverschiebende Aspekte von deutschen und englischen Übersetzungen zu 1Kor 7,20–21 im Gefolge der Lutherbibel macht S. Scott Bartchy in seinem Beitrag (222–240) aufmerksam und zeigt auf, wie Luther durch seine Übersetzung von kl?sis »Paulus […] zu einem mächtigen Sprachrohr für sein eigenes theologisches Programm« machte (222).
Die diskurstheoretischen Überlegungen des Beitrags von Klaus Neumann (105–154) werden fruchtbar gemacht für das neutestamentliche Thema Ehebruch und Ehescheidung. John J. Pilch’s Aufsatz zur »Musik im zweiten (slawischen) Henochbuch« (155–169) beleuchtet das Verständnis der dort geschilderten Himmelsreise unter Einbeziehung von Überlegungen der psychologischen An?thropologie und Ethnomusikologie: »Schamanischer Seelenflug«, »Trance« und »musikalische Halluzination« – Begriffe, die in der deutschsprachigen Bibelwissenschaft gewiss nicht zum Standardrepertoire gehören und doch erhellende Perspektiven für das Verständnis des zweiten Henochbuches bereithalten. Das Thema »Himmelsreise« steht auch im Fokus des Beitrags von Adriana Destro und Mauro Pesce (315–332), die unter Anwendung des Bourdieu’schen Begriffs der Praktik eine Interpretation von 2Kor 12,1–4 liefern.
Der Beitrag von Luise Schottroff »Die Theologie der Thora im ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth« (160–187) führt mit aller Deutlichkeit vor Augen, dass der Identitätsdiskurs der Moderne für die Antike gerade nicht gilt: »Die Frage nach definierbaren Identitäten ›jüdisch‹ oder nicht wird zu dieser Zeit in Korinth weder von innen noch von außen gestellt.« (184) Gerd Theißen geht in seinem Aufsatz der Frage nach, inwiefern die Erkenntnisse der kognitiven Religionswissenschaft ein heuristisches Erklärungsmuster bieten für die Ausbreitungsdynamik des Urchristentums (188–204). Unter dem Titel »Zwischen Reich Gottes und anderen Interessen« (205–221) erstellt Emilio Voigt anhand verschiedener Motive der Jesusnachfolge ein mehr oder weniger präzises So-ziogramm der Jesusbewegung. Jede romantisierende Lesart des Gleichnisses vom verlorenen Schaf wird spätestens nach der Lek-türe von John S. Kloppenborgs Aufsatz »Hirten und andere Kriminelle« (241–264) den hermeneutischen Bankrott der eigenen In-terpretation erkennen müssen. Petri Luomanen widmet sich der kritischen Aufarbeitung von Rodney Starks Soziologie des Ur?chris?tentums für die sozialwissenschaftliche Bibelexegese (265–284).
Schande und Stigma, und wie sie durch Paulus im Römerbrief neu definiert werden, zeigt Dietmar Neufeld auf (285–300). In die Welt der begrenzten Güter und den daraus folgenden Verstehensvoraussetzungen biblischer Texte führt der Beitrag von Douglas E. Oakman grundlegend ein (301–314). Den Abschluss bilden zwei ritualwissenschaftliche Studien: Richard E. DeMaris bietet eine rituelle Lektüre des Markusevangeliums, das die Funktion des Evangeliums als primär therapeutische bestimmt (333–346). Der frühchristlichen Taufpraxis widmet sich Christian Strecker (347–410), der überaus innovativ die baptismale Funktion in ritueller Hinsicht für die Anfänge des Christusglaubens herausarbeitet.
Es ist der universalistische Ansatz der sozialwissenschaftlichen Exegese, der die Leser manchmal etwas ratlos zurücklässt: Wie begründet sich die Präferenz für diese oder jene Methode für dieses oder jenes Thema? Selbst wenn der Band die Prozesse der Interpretation und eine Interpretationsethik dieser Methode nicht eigens zum Thema macht, so kann den vorliegenden sozialwissenschaftliche Einzelexegesen bestätigt werden: Sie sind in der Lage, exaktes Wissen und kritische Reflexionsformen zu vermitteln, die das Verständnis ihrer Gegenstände im Rahmen eines historischen Paradigmas vertiefen und erweitern.