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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

37–39

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kreuzer, Siegfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Einleitung in die Septuaginta.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. 718 S. = Handbuch zur Septuaginta, 1. Geb. EUR 198,00. ISBN 978-3-579-08100-7.

Rezensent:

Folker Siegert

Nicht weniger als 45 Autoren aus nahezu allen Weltteilen stellen in diesem Werk sich vor (713–718). Das ist ein stolzes Ergebnis für das Wuppertaler Septuaginta-Unternehmen. Es ist aber auch eine Pa?rade des Spezialistentums. Positiv vermerkt sei die Wiedergabe aller Beiträge in derselben Sprache, in Deutsch. Für die anderen Bände dieses Handbuchs (Nr. 3 wird zu erwähnen sein), sämtlich Sammelbände, ist dieser Aufwand nicht vorgesehen.
Der Bandtitel (nicht der Reihentitel) verspricht mehr, als solch ein Buch halten kann. Es ist eine Sammlung von Beiträgen zwar nach einer gemeinsamen Grobgliederung; doch hat jeder Autor das Recht auf seine eigene Meinung und fasst seine Aufgabe anders auf. Fragen wie die nach dem historischen Wert des Aristeasbriefs, auf den die Autoren der Anfangsbeiträge, jeder auf seine Art, zurückkommen, werden nicht nur unterschiedlich, sondern repetitiv behandelt. So auch, und vor allem, die Sekundärliteratur, der das Hauptinteresse gilt. Die zeilenlangen Titulaturen einschlägiger Sammelbände kehren nach dem amerikanischen copy-and-paste-Verfahren in fast allen Kapiteln wieder, was viel Platz kostet. Als Literaturverzeichnis hat man nur die Abkürzungsliste (17–22); es gibt kein Autorenregister. Das Register (697–712) umfasst nur das Wichtigste, nämlich Bibel- und andere Stellen, auf S. 707 f. auch LXX-Codices; keine Stichwörter.
Der Text auf dem Rückumschlag kündigt an: »Das vorliegende Werk ist die erste deutschsprachige und bisher umfangreichste Einleitung in die Septuaginta.« Das wird auch nach dem Erscheinen des Oxford Handbook of the Septuagint (hrsg. Alison G. Salvesen und T. Michael Law) wohl so bleiben. Der Rezensent erinnert sich freilich, ein solches auf Deutsch bereits geliefert zu haben, ein Provisorium zwar, unter dem bescheidenen Titel »Zwischen He?bräischer Bibel und Altem Testament«, 350 Seiten stark und bei Kreuzer et al. gelegentlich auch erwähnt.
Bescheidener ausgestattet, hatte es auch nur ein Fünftel gekostet, hatte aber schon darauf aufmerksam machen wollen, dass hier nicht »das« Alte Testament übersetzt wurde; vielmehr ist das Alte Testament mit dieser Übersetzung überhaupt erst entstanden. Diese Information vermisst man z. B. auf S. 76; von vagen Andeutungen des Sirach-Buchs springt Kreuzer gleich zu den großen Codices des 4. Jh.s. Das nur als Beispiel.
Zu den Stärken des Bandes gehört Kreuzers Darstellung der Editionsprinzipien für den griechischen Text, wie sie heute gelten müssten (50–52.72–74). Die Bedeutung der großen Codices B, A, S schwindet wieder ein Stück zugunsten des leider nur spät bezeugten, aber im Ursprung lange vor-origenischen, »antiochenischen« Textes:
»In den ›Randzonen‹ blieben die alten Textformen am längsten erhalten. Das passt dazu, dass die besten Zeugen für die ursprüngliche Septuaginta (Old Greek) im Norden zu finden sind, in Form des antiochenischen Textes, im Wes?ten indirekt bezeugt durch die Vetus Latina und im Süden durch den ägyptischen griechischen Text bzw. durch die sahidische Übersetzung.« (75)
Sehr begrüßenswert ist die Liste der wichtigsten LXX-Handschriften (89–93), chronologisch angeordnet, mit Einbeziehung der nunmehr erschlossenen Qumranbelege (griechisch) oder -parallelen (hebräisch); nur den auf S. 80 genannten P.Oxy. 1007 vermisst man dort. Eine Übersicht zur Entstehungschronologie der LXX-Schriften wird nicht versucht. Schon im Pentateuch hält ein Autor das Dtn für älter als Lev-Num, ein anderer für jünger.
Die Gliederung folgt im Hauptteil (97–659) dem Kanon in seiner von Alfred Rahlfs 1935 etablierten Fassung. Altes und Neues, Übersetztes und nicht Übersetztes wechseln sich somit ab. Als Rahmenbeiträge dienen »Entstehung und Überlieferung der Septuaginta« (29–88, S. Kreuzer) und »Überblick zu den Textzeugen der Septuaginta« (89–94, S. Kreuzer/M. Sigismund) – eben genannt – sowie, als Annäherung an den Pentateuch, »Von der Tora zum Nomos. Perspektiven der Forschung am griechischen Pentateuch« (97–106, M. Rösel). Erneut bleibt verdeckt und wird auch später nicht mehr gesagt, dass bezüglich der Benennung die Entwicklung umgekehrt ging: Das antike Judentum hatte früher einen Nomos als eine – im Singular so genannte – Tora. Die diesbezügliche Literatur (z. B. G. Miletto in Henoch 2004, 1–13) bleibt ungenannt, was bei einem Schwerpunkt auf der Literatur befremdet. Was aber diesen betrifft: Zu 3Makk fehlt ein Hinweis auf den historischen Schlüssel, den M. Piotrkowski in M. Hirschberger, »Jüdisch-hellenistische Literatur« (2012), 117–142, geliefert hat. Dass die zu Jon (510) genannte Synagogenpredigt auch auf Deutsch existiert (WUNT 20), bleibt unerwähnt. Auf S. 115 wird eine wichtige Arbeit von A. Momigliano in ihrer französischen Übersetzung genannt, wo doch eine deutsche im selben Jahr (1979) erschienen ist.
Die interne Gliederung der Beiträge zu jedem Septuagintabuch ist: »1. Literatur, 2. Textüberlieferung und Editionen, 3. Übersetzungstechnik, Zeit und Ort der Übersetzung, 4. Sprachliches, in?haltliches und theologisches Profil, 5. Aspekte der Wirkungsgeschichte und 6. Perspektiven der Forschung« (15). Von den Fragen der klassisch-philologischen Isagogik bleibt unberücksichtigt: Woher der Titel? Wo beginnt, wo endet der authentische Text? Wie wird gezählt und zitiert? Welche Arbeitsmittel gibt es für die Arbeit am Urtext (sc. den griechischen)? Das ebenso praktische wie hilfreiche Werk von G. A. Chamberlain: »The Greek of the Septuagint, A Supplemental Lexicon« (2011) wird nirgends empfohlen.
Selbst in der gut bedienten Rubrik »Rezeption« zeigen sich Lücken. Dass Hieronymus das Tobit-Buch in 6,17 ff. für die Vulgata-Fassung moralisierend umgeschrieben hat, bleibt auf S. 293 f. unvermerkt. Und was antike Vorlagen betrifft: Zu Jdt fehlt ein Hinweis auf die Heldin Tomyris bei Herodot (1,214); sie war ja wohl die griechische (genauer: skythische) Judith, ehe es eine jüdische gab. Gerade wo dem Buch ein rein griechisches Original zugetraut wird, wäre das interessant gewesen.
Zur Terminologie: Eine an der Ausgangssprache orientierte Übersetzung heißt in diesem Band – zumindest was Syntax betrifft – »isomorph«, Vokabelgleichungen heißen »konkordante Wiedergabe«. Die linguistische (sprachwissenschaftliche) Basis des Unternehmens ist bei alledem eher schmal, und »Kontext« wird gesagt, wo man »Milieu« meint (516, Anglizismus). Vor allem fehlt ein Bewusstsein vom Unterschied zwischen Name und Begriff. Dass kyrios (artikellos) in der Septuaginta vom Begriff zum Namen wird, ebenso nomos (Singular) u. a., wäre, so bezeichnet, sofort verständlich.
Die Literarkritik bleibt ganz im Schatten, auch wo man Genaueres sagen könnte. Wo erfährt man, dass das Sirach-Buch von fünf Personen stammt, die uns alle genannt werden über die Generationen hinweg (50,27 hebr. B), der Letzte freilich, der Übersetzer, nur ohne Namen (im Prolog)? Hier würde man deutlich sehen, dass im semitischen Sprachraum Bücher etwas anderes sind als im griechischen, und unsere Evangelien würden als Überkreuzung beider Kulturen umso begreiflicher.
Überhaupt werden Fragen nach den Buchtiteln – von wo und wann, von welcher Seite (jüdisch oder christlich) sie überhaupt kommen – nur selten gestellt. Herrschend ist derjenige Integrismus, der jedes Bibelbuch wie einen Block ansieht, an dem nur Details sich wandeln. Ja auch an historischem Problembewusstsein fehlt es an vielen Stellen, insbesondere wenn außer Betracht bleibt, dass der Kanon der Septuaginta auf kirchlichen – nicht auf synagogalen, schon gar nicht auf rabbinischen – Entscheidungen beruht. Der Alten Kirche war wohl bewusst, worin sie vom rabbinischen Kanon abwich (Meliton-Zitat bei Euseb, HE 4,26,14; auf S. 253 erfährt man davon zu wenig). Aus eigenem Ermessen heraus hat sie alles, was sie für jüdisch hielt, ihrer Bibel beigegeben. Dass das Baruch-Buch und die heute nur noch syrisch erhaltene Baruch-Apokalypse einstmals zusammenhingen (dann aber offenbar durch kirchliche Entscheidung getrennt wurden), haben nur Kenner des Syrischen wie P. de Lagarde und R. H. Charles noch gewusst. Man kann ja die diesbezüglichen Quellenaussagen verwerfen, aber nicht, ohne sie überhaupt zu kennen.
Der canonical approach zeigt sich auch daran, dass die älteste Formulierung der berühmten Menschensohn-Stelle Dan 7,13 nur beiläufig zur Sprache kommt (647.674). In keiner kirchlichen Bibel, gleich in welcher Sprache, steht hier der älteste erhaltene Text zu lesen (Cod. 88 plus Sekundärzeugen). Dessen aramäische Vorlage ist nur als veränderter Teil der MT-Fassung erhalten geblieben. Im hier interessierenden Old Greek von Dan 7,13 ist der Menschensohn »als Alter der Tage (Gott) gegenwärtig«, wohingegen er in der Th-Fassung und im MT »zum Alten der Tage gebracht wird«. Der älteste Text dieses Verses hat gar keine Menschengestalt neben Gott im Himmel, sondern Gott erscheint in Menschengestalt. Forscher wie Mogens Müller (Der Ausdruck »Menschensohn« in den Evangelien, 1984, 19 f. – im Daniel-Beitrag von M. Settembrini, 635–648, nicht genannt) haben längst darauf hingewiesen, Müller mit einem Forschungsbericht ad hoc. An dieser Stelle hätte sich exemplarisch das Problem der stufenweisen Entstehung dieses Buches im Wechselspiel seiner verschiedensprachlichen Fassungen darstellen lassen. Stattdessen gilt jedes Buch hier in derjenigen Fassung, in der es die Kirche rezipiert hat. Dass sich ältere Texte darin verbergen könnten, die den beanspruchten Offenbarungsereignissen näher liegen müssten, findet bei dieser Art von Integrismus kein Interesse.
Der Druck ist sorgfältig, die Ausstattung gediegen (allerdings Klebebindung). Lektordienste hätte man solchen Beiträgen ge?wünscht, die auf Kommasetzung vor Relativsätzen allzu oft verzichten, insbesondere aber dem auf Griechisch Zitierten. Man findet Wörter wie entáphistai (statt entaphiastaí, 113) oder thysiasthrion (116), tetoiken (213), outs (264) und Dutzende an Spiritus- und Akzentfehlern.
Fazit: Das Provisorium, das der Rezensent selbst geliefert hatte, bleibt unersetzt, und auch eine Einleitung im Sinne von Stracks bzw. Stembergers »Einleitung in Talmud und Midrasch« ist das nicht, sondern vor allem ein Forschungs- und Literaturbericht. Er ist eben konzipiert als Begleitband zur deutschsprachigen Septuaginta. Wenn er auch Hebräisch und Griechisch zitiert (in 3.2 – und nur dort – sogar als Metasprache), so hält sich sein Anspruch doch strikt innerhalb dessen, was der Reihentitel vorgibt.