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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1299–1300

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pickel, Gert, Jaeckel, Yvonne, u. Alexander Yendell

Titel/Untertitel:

Der Deutsche Evangelische Kirchentag – Religiöses Bekenntnis, politische Veranstaltung oder einfach nur ein Event? Eine empirische Studie zum Kirchentagsbesuch in Dresden und Hamburg.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015. 186 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-8487-2276-1.

Rezensent:

Harald Schroeter-Wittke

30 Jahre nach den letzten empirischen Studien sind die Kirchentagsbesucher und -besucherinnen in Dresden 2011 und Hamburg 2013 erneut in einer repräsentativen Umfrage befragt worden, diesmal von Gert Pickel (Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät in Leipzig) und seinen Mitarbeitern. Dabei sollte ein valider Zugang zu der Frage gefunden werden, wen der Kirchentag wie anspricht und was ihn dabei auszeichnet. Dies geschieht vor dem Hintergrund von Säkularisierung, Individualisierung und religiöser Plur alisierung. Insbesondere zum Säkularisierungsparadigma hat sich Pickel in der Vergangenheit differenziert geäußert. Angesichts des zunehmenden Bedeutungsverlusts von Religion stellen die Kirchentage mit ihrer nachhaltigen Dauerteilnehmerschaft von 100.000 ein untersuchungswürdiges Phänomen dar. Die Be­deutung des Kirchentags für seine Teilnehmer steht im Vor-dergrund der Untersuchung, wobei mit dem Kirchentag als Glaubensfest, als politische Veranstaltung sowie als Event drei Deutungsmuster maßgebend sind, die zuweilen gegeneinander ausgespielt werden, sich aber gar nicht ausschließen müssen.
Die erhobenen Daten werden in neun Kapiteln unter verschiedenen Fragestellungen vorgestellt und interpretiert. Ich versuche, die wichtigsten Ergebnisse knapp zusammenzufassen: Der Kirchentag wird stark von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geprägt. Diese weisen ein hohes Bildungsniveau auf. Die meisten Kirchentagsteilnehmer sind hoch (mehrfach) engagierte und hoch religiöse Menschen, sogenannte »christliche Aktivisten« (94), von denen die überwiegende Mehrzahl den Kirchentag mehrfach be­sucht hat. Es lassen sich drei Typen von Teilnehmern identifizieren: die Erfahrenen Religiösen, die Aktiven Gemeinschaftsorientierten sowie die Jungen Neugierigen. Letztere weisen in puncto religiöser Verbundenheit nicht so hohe Werte auf wie die ersten beiden Gruppen. Dennoch lässt sich für alle Gruppen als Ergebnis festhalten: »Ohne den religiösen Charakter gäbe es keine Kirchentage mehr, ohne den politischen und Eventartigen schon – nur mit weniger Besuchern.« (175) Eindrucksvoll zeigt diese Studie, dass der Kirchentag weder »zu einem reinen Massenevent verkommt« (so Friedrich Wilhelm Graf) noch »Politik mit anderen Mitteln« (56) betreibt (so Burghard Affeld und Lutz von Padberg). Fromm und politisch – diese Charakterisierung der Teilnehmer aus den empirischen Untersuchungen der 1980er Jahre trifft auch in der Gegenwart zu und wird durch den Faktor Spaß bzw. Event erweitert. Alle drei Deutungsmuster spielen im Kirchentag gut zusammen, wobei dem Glaubensfest von den Teilnehmern das meiste Gewicht beigemessen wird.
Für die Kirchentagstheorie lassen sich viele bemerkenswerte Dinge aus dieser Studie festhalten: Die Teilnehmer gehören mehrheitlich zu den kritischen und gleichwohl hoch Engagierten in ihren Kirchengemeinden und vielfach auch darüber hinaus. Die religiöse Identität, die hier ausgebildet wird, ist keine ausgrenzende, sondern eine hoch integrierende. Der Kirchentag bildet ein religiöses wie gesellschaftliches Sozialkapital, das vom Face-to-face-Kontakt herkommend bei den Teilnehmern Vertrauen aufbaut, die dieses Vertrauen wiederum auch über den engeren Kontakt in fremde Kontexte hinein investieren. So lässt sich der Kirchentag als »Schule der Demokratie« (88) beschreiben. Im Hintergrund dieser Beobachtung steht der Ansatz von Robert Putnam, der den Bridg-ing-Effekt des Sozialkapitals betont. Der von anderen Forschern hervorgehobene Bonding-Aspekt von religiösen Gruppen als Sozialkapital, der Identität stark in abgrenzenden Formen fördert und fordert, spielt beim Kirchentag so gut wie keine Rolle. Eine klare Abgrenzung gibt es nur Rechtsradikalen gegenüber. Die Kirchentagsbesucher erweisen sich damit als eine sehr selektive Gruppe, die hier geballt zusammenkommt und diese Gemeinschaft auch auf ihre Weise zelebriert. Dabei spielen die Beteiligungen an explizit kirchlichen, theologischen oder religiösen Themen gegenüber den sozialen Themen eine leicht abgeschwächte Rolle, dies aber auf einem überdurchschnittlich hohen Niveau. Der Kirchentag erweist sich somit für seine Teilnehmer als eine »Quelle sozialen Vertrauens für die Gesellschaft« (111). Vier Einzelbeobachtungen seien abschließend hervorgehoben:
1. Frauen werden vom Kirchentag offensichtlich noch stärker angesprochen als Männer.
2. Über die Hälfte der Kirchentagsbesucher steht politisch den Grünen nahe.
3. Für viele Jugendliche (14–29 Jahre, davon 65 % ledig und 95 % ohne Kinder) erweist sich der Kirchentag als eine produktive Begleitung ihrer Jugendzeit. Er ist »als ›Schwellenritual‹ für die große und mittlerweile zeitlich stark ausgedehnte Schwelle vom Kindes- ins Erwachsenenalter besonders kompatibel« (129).
4. Die Kirchentagsbesucher verstehen sich in erster Linie als Protestanten und erst danach als Kirchenmitglieder, wobei hier von den Landeskirchen die geringsten Bindekräfte ausgehen.
Leider bietet die Studie an manchen Stellen auch Ungenauigkeiten. So werden die Gründungsintentionen Reinold von Thadden-Trieglaffs so stark vereinfacht, dass sie in ihren pietistischen Wurzeln verzeichnet werden: Diese waren nämlich keineswegs »restaurativ« (71). Bestimmte Begriffe bleiben unterbestimmt, wie etwa der Event-Begriff oder der von Peter Bubmann in die Diskussion eingebrachte Begriff des »konfirmierenden Festes« (128), der in dieser Studie offenbar stärker als Konfirmation und nicht als konfirmierendes Handeln gedacht wird. Schließlich ist es m. E. eine vertane Chance, dass nicht zwischen Mitwirkenden und anderen Teilnehmern in der Befragung unterschieden wurde. Nahezu 50 % der Dauerteilnehmer sind Mitwirkende. Diese wollen das »erfolgreiche Produkt« (174) Kirchentag nicht nur konsumieren. Die tun etwas, die wollen nicht nur spielen. Das wurde aber leider nicht weitergehend erfragt, hätte aber die Theoriebildung noch weiter differenzieren können.