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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1297–1299

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klie, Thomas, Kumlehn, Martina, Kunz, Ralph, u. Thomas Schlag[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie der Bestattung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. X, 595 S. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 17. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-034616-9.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Die Bestattungskultur ist in Bewegung. Im Kontext einer individualisierten, pluralisierten und medialisierten Gesellschaft haben die christlichen Kirchen das über Jahrhunderte weitgehend unbestrittene Monopol in der Praxis der Bestattung und der Deutung des Todes verloren.
Seit Beginn der 1970er Jahre zeigt sich das immer deutlicher. Die Erdbestattungen gehen zurück. Die Kremationen nehmen unaufhaltsam zu und mit ihnen die Variationen der Bestattungsformen. Die Vorstellungen über das, was nach dem Tod zu erwarten ist, haben sich diversifiziert. Auch Kirchenmitglieder lassen sich nicht mehr selbstverständlich unter Beteiligung des Pfarrers oder der Pfarrerin bestatten. Einerseits zeigt sich unter dem Einfluss von Hospizarbeit und Palliativmedizin eine deutliche Tendenz, der Begleitung von Sterben und Trauer neue Aufmerksamkeit zu widmen; auf der anderen Seite steht eine Zunahme des namenlosen, möglichst wenig aufwändigen und oft auch würdelosen Verschwindens der Toten aus dem Gedächtnis der Lebenden. Im Rahmen dieser dynamischen Entwicklungen setzen sich die Kirchen und die Praktische Theologie mit einer angemessenen Reaktion auseinander. Dabei geraten theologische, liturgisch-homiletische wie seelsorgliche Fragen in den Fokus, aber auch die Bedeutung von Bestattungsformen und Friedhöfen in der Kultur insgesamt. Es ist das Verdienst der Rostocker Praktischen Theologie, zum Thema mehrere Tagungen in interdisziplinärer Perspektive veranstaltet zu haben, um damit ein vertieftes Nachdenken über den Wandel der Bestattungskultur zu ermöglichen. Den Ertrag dieser Ta­gungen bündelt der vorliegende Band, der nach einer Einleitung der Herausgeber und der Herausgeberin 30 Beiträge aus praktisch-theologischer bzw. kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten vereint.
Der Würdigung dieses Buches sei vorausgeschickt, dass sein Titel eventuell nicht ganz zutreffende Assoziationen weckt. Eine Praktische Theologie der Bestattung, die systematisch das Thema erschließt, kann eine solche Aufsatzsammlung nicht repräsentieren. Die Gliederung des Buches gibt in mancher Hinsicht Rätsel auf, ebenso wie die Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den insgesamt 13 Kapiteln. Fast unvermeidlich ist es auch bei einem solch umfangreichen Sammelband, dass die Autoren und Autorinnen vor allem bei der Hinführung zu ihrem spezifischen Thema eine Fülle von Redundanzen produzieren.
Ungeachtet dieser kritischen Vorbemerkung aber stellt das Buch eine Fundgrube dar für alle, die sich mit dem Wandel der Bestattungskultur auseinandersetzen. Wer das Buch liest – auch in den eigenen Interessen entsprechender Auswahl –, wird zu den unterschiedlichen Facetten des Themas eine Fülle von wichtigen Informationen, anregenden Reflexionen, weiterführenden Literaturhinweisen finden. Aus dem breiten Spektrum des Gebotenen seien im Folgenden einige Beiträge exemplarisch hervorgehoben.
Ein gut strukturierter und theoretisch unterfütterter Überblick von Ronald Uden über die Entwicklungen in der Bestattungskultur eröffnet den Band. Er mündet in fünf Thesen zur Handlungsorientierung im Blick auf die Zukunft der christlichen Erinnerungskultur. Von vornherein deutlicher an den Perspektiven der kirchlichen Praxis orientiert sind die Beiträge von Kristian Fechtner und Lutz Friedrichs, aber auch ihnen geht es schließlich um die zukünftige Kontur der christlichen Bestattungspraxis. Bereits wenn man diese drei Beiträge nebeneinander liest, wird ein Spannungsfeld deutlich. Sie widersprechen sich nicht, akzentuieren aber unterschiedlich in der Frage, ob die kirchliche Praxis sich von den kulturellen Entwicklungen absetzen bzw. sich in diesem Kontext und durch ihn verwandeln lassen soll. Während zum Beispiel Fechtner den herausgehobenen und öffentlich sichtbaren Ort des Grabes gleichsam als eine Analogie zur Verheißung eines »Lebens in Gott« (60) sehr stark macht, bleiben für Friedrichs in der Tradition der Reformation Form und Ort der Bestattung theologisch sekundär (65). Er resümiert, dass die Kirche wenig Einfluss auf die laufenden Prozesse habe und »ihre Anliegen innerhalb der postsäkularen Bestattungskultur« (84) entwickeln müsse.
Lehrreich im Blick auf die Aufgabe der Bestattungspredigt sind die Beiträge von Birgit Weyel und Frank M. Lütze. Weyel berichtet von einer empirischen Studie über Bestattungspredigten württembergischer Pfarrerinnen und Pfarrer und deren – sehr diverser – inhaltlicher Orientierung zwischen Biographie und Eschatologie. In ihrer Auswertung plädiert sie dafür, die kreativen Potentiale der christlich-eschatologischen Perspektive für die Lebensdeutung zu nutzen, anstatt – z. B. im Blick auf Geschlechterrollen – traditionelle Wertorientierungen zu reproduzieren. Auch Frank Lütze be­tont in seinem lesenswerten Beitrag nicht das beruhigende, sondern das irritierende Potential der christlichen Rede im Angesicht des Todes: Der Tod gebe insofern etwas zu lernen, als er keine simplen Antworten zulasse, sondern dazu anleite, offene Fragen als solche auch zu benennen und auszuhalten und eben darin die Würde der Verstorbenen und der Trauernden zu wahren.
Vier Beiträge widmen sich den neuen Orten der Bestattung, darunter der Text von Sieglinde Sparre über die in evangelischen und katholischen Kirchen entstehenden Kolumbarien und ihre liturgischen und seelsorglichen Chancen. Ebenso interessant ist der Blick, den Ilona Nord und Swantje Luthe auf die virtuellen Bestattungs- und Gedenkorte eröffnen. Gegenüber einer vorschnellen theologischen Abwertung dieser neuen Räume zeigen sie, dass diese durchaus hilfreiche und ernsthafte Kontakte für Trauernde anbieten und dass virtuelle Räume und reale Friedhöfe zunehmend als miteinander verbundene Realitäten anzusehen sind.
Können die Toten persönlich angesprochen werden? Dieser im protestantischen Kontext umstrittenen Frage widmet sich liturgisch und theologisch durchdacht Christian Brouwer. Der Bestattungsmusik, neuen Bestattungsritualen, dem Beruf der Bestatter und dem Tod als Bildungsthema gelten weitere Beiträge. Der Band schließt ab mit Kapiteln über den Tod in der Literatur und im Bild, die auf ihre Weise zeigen, dass die kirchliche Bestattungskultur mit anderen Deutungsangeboten in Konkurrenz steht, aber auch im Gespräch ist. Zwar gibt es ein Kapitel zur Seelsorge, aber dieses wichtige Feld kirchlichen Handelns im Umfeld des Todes ist insgesamt wenig belichtet.
Insgesamt macht die Lektüre der im Herangehen und in der Reflexionstiefe sehr unterschiedlichen Aufsätze deutlich, dass Bestattung Anlass zum Nachdenken gibt und die Praktische Theologie in dieser Hinsicht mit ihren Überlegungen sicher noch nicht am Ende ist. Ob die Entwicklungen eher als Verfall zu in-terpretieren oder auch als durchaus anregende Inspiration für die kirchliche Praxis wahrzunehmen sind, wird unterschiedlich bewertet. Einigkeit aber ist wohl leicht darüber zu erzielen, dass dem in diesem Buch behandelten Themenfeld weiterhin Aufmerksamkeit gebührt. Denn zum einen stellt die Bestattung für den Pfarrberuf eine herausfordernde Aufgabe dar (Thomas Schlag). Zum an­deren bündeln sich in ihrem Kontext signifikante kirchentheoretische Probleme der Gegenwart (Christian Grethlein). Und schließlich wird die Dynamik des in diesem Buch thematisierten kulturellen Wandels mit Sicherheit nicht so schnell an ihr Ende gelangen.