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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1291–1292

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Drechsel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Gemeindeseelsorge.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 204 S. Kart. EUR 26,00. ISBN 978-3-374-04059-9.

Rezensent:

Michael Klessmann

Der Heidelberger Praktische Theologe Wolfgang Drechsel will mit dem vorliegenden Buch auf »ein Stiefkind der Seelsorgetheorie« (5) aufmerksam machen.
Seelsorge in der Gemeinde gehört zu den zentralen Aufgaben in jedem Pfarramt – und doch ist sie in der poimenischen Theorie als explizites Thema weitgehend übersehen worden. Und auch in der Praxis nehmen Pfarrerinnen und Pfarrer die vielen kleinen Be-gegnungen im Alltag, die quasi »zwischendurch« geschehen und durchaus seelsorglichen Charakter haben, nicht wirklich wahr. Das von der kerygmatischen und der therapeutischen Seelsorge vertretene Ideal vom »tiefgehenden Einzelgespräch« im Amtszimmer oder am Krankenbett verhindert den wachen Blick auf das, was »im Kleinräumigen, Alltäglichen und oft auch banal Anmutenden« (15) meistens zufällig an Seelsorge ge­schieht. Jenes Ideal speist sich nach D. zum einen aus den Anleihen, die pastoralpsychologische Seelsorge bei der Psychotherapie gemacht hat und weiterhin macht, zum anderen aus einer inkarnatorisch-theologischen Begründung:
Wenn Rechtfertigung in der seelsorglichen Begegnung erfahrbar werden soll, brauche es das tiefgehende Ge­spräch, um wenigs­tens die Bedingung der Möglichkeit dieser Erfahrbarkeit zu rea-lisieren. D. nimmt stattdessen einen Perspektivenwechsel vor: »Rechtfertigung ist nicht zu erreichendes Ziel der Seelsorge, sondern ihr Ausgangspunkt.« (51) Die potentielle Überforderung der Seelsorgeperson wird aufgelockert; es kann eine seelsorgliche Grundhaltung entstehen, die von dem Vertrauen darauf lebt, dass der andere Mensch bereits von Gott gerechtfertigt ist. Mit diesem Perspektivenwechsel wird die seelsorgliche Situation entlastet, die hilfreiche Unterscheidung von Person und faktischem Selbst ge­lingt leichter, auch die Seelsorgeperson selbst kann mögliches Scheitern besser annehmen. Das Ziel der Seelsorge liegt nicht in der Veränderung des anderen Menschen und entsprechender Hilfestellung, sondern darin, diesen Menschen »in seinem Gerechtfertigtsein durch Gott« zu würdigen (54). Würdigen und wertschätzen sind die beiden Verben, die nach D. diesem Gerechtfertigtsein durch Gott quasi empirisch Ausdruck geben, in ganz unterschiedlichen Formen (sei es ein tiefgehendes Gespräch, sei es eine banale Begegnung), je nach Person und Kontext.
Mit der veränderten theologischen Voraussetzung ist dann der (soziologisch-empirisch hier nicht näher differenzierte) Kontext Gemeinde neu und nicht defizitär wahrzunehmen. Eine wichtige Erkenntnis: Wenn Pfarrer und Gemeindeglieder eine gemeinsame Lebenswelt teilen, in der sie sich wiederholt begegnen, verändern sich die Schamgrenzen. Im geteilten Alltag will man sich gerade davor schützen wollen, dass ein Gespräch zu »tief« und zu per-sönlich wird. Beziehungspflege, Wahrgenommen- und Gewertschätztwerden (65) stellen in diesem Kontext wichtige und sinnvolle Ziele von Seelsorge dar.
D. nimmt dann die bekannte Unterscheidung von Kommstruktur (die von Alltagssmalltalk zu dramatischer Krisenintervention reicht und angesichts der Offenheit der Situation ein hohes Maß an hermeneutisch-situativer und beraterischer Kompetenz erfordert) und Gehstruktur auf, wie sie sich im Zugehen auf Menschen in der Gemeinde, im Hausbesuch, speziell dem Geburtstags- und Kasualbesuch, manifestiert. Die Metapher des »zu Gast sein« sollte das Selbstverständnis und die Haltung der Seelsorgeperson leiten: Dann fällt es leichter zu akzeptieren, »was gerade ist«, und nicht auf tiefergehende, quasi therapeutische Gelegenheiten zu warten. Die aus Therapie und Beratung bekannte Forderung nach distanzierter Professionalität muss unter den Bedingungen des Zu-Gast-Seins und angesichts der Tatsache, dass Seelsorgeperson und Seelsorgepartner gemeinsam vor Gott stehen, jeweils neu bestimmt werden. Die große Vielfalt der Begegnungen fordert eine hohe »Übergangskompetenz«, Flexibilität und Spontaneität, die durch die vielfältigen Möglichkeiten seelsorglicher Aus- und Weiterbildung (Selbsterfahrung, Gesprächsführungsmethoden, Lehrseelsorge etc.) im­mer neu gestärkt werden sollte.
D. formuliert in seinem Buch die theologischen Voraussetzungen der Seelsorge in gewisser Weise neu. Die Konsequenzen für Seelsorge in der Gemeinde, für die differenzierte Wahrnehmung dieses speziellen Kontextes, auch anhand eingestreuter Fallbeispiele und Gesprächsprotokolle, sind produktiv und hilfreich.
Kritisch sehe ich die Kontrastfolie, die er aufbaut, um dieses Ziel zu erreichen: Auch die therapeutische Seelsorge behauptet nicht die »faktische Machbarkeit« der Rechtfertigung durch die Seelsorgeperson, sondern will durch ihr annehmendes (Rogers) oder wertschätzendes (systemische Seelsorge) Verhalten etwas abbilden von dem, woran wir glauben bzw. was wir als Rechtfertigung durch Gottes Gnade kommunizieren möchten. Bezeichnen die von D. häufig verwendeten Verben »Würdigen« und »Wertschätzen« nicht etwas Ähnliches? Appellieren sie nicht auch und unvermeidlich an die Aktivität, an die Kompetenz der Seelsorgeperson, weil sich doch Inhalts- und Beziehungsebene annähernd entsprechend müssen, um eine glaubwürdige Kommunikation zu er­reichen, die dennoch Raum genug für das Wirken des Geistes lässt? Geraten die Seelsorgenden nicht auch dadurch unter einen gewissen – wie ich finde: heilsamen und sinnvollen – Druck? Man sollte, so meine ich, Gottes und des Menschen Aktivitäten nicht so auseinanderreißen, sondern gerade in ihrer unauflöslichen und geheimnisvollen Durchdringung würdigen.