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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1281–1283

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ferrari, Cleophea, u. Dagmar Kiesel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Tugend.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann 2016. 204 S. = Erlanger Philosophie-Kolloquium Orient und Okzident, 1. Kart. EUR 22,80. ISBN 978-3-465-04212-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Mit dem hier vorzustellenden Band eröffnet der Arbeitsbereich Philosophie der Antiken und Arabischen Welt am Philosophischen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg eine neue Publikationsreihe, die, wie die Herausgeberinnen im Vorwort schreiben, den »vielfältig vernetzten Beziehungen beider Kulturräume von der Antike bis zur Gegenwart« (7) gewidmet ist. Hierzu ist das Thema der Tugend klug gewählt, weil die antike Ethik eine Tugendethik ist und dieser Typus der Ethik gegenwärtig eine Renaissance erlebt. Zudem ist der Band interdisziplinär angelegt, so dass die historischen Verbindungen beider Kulturräume nicht nur aufgezeigt, sondern zugleich für heutige Diskussionen fruchtbar gemacht werden können.
Zu Beginn zeigt Bruno Langmeier an seiner Fragestellung »Hochmut als Tugend?« (11–35) die Rezeption des Aristoteles durch Thomas von Aquin auf: Der für die Tugend wichtige Begriff der megalopsychia, der Großgesinntheit, impliziert bei Aristoteles, dass eine tugendhafte Tat entsprechend geehrt wird. Thomas schränkt diesen Gedanken durch seine Gnadenlehre ein, denn »die eigentliche Ehre für die Exzellenz eines Menschen gebührt Gott und nicht dem Menschen selbst, da der Grund für die Exzellenz das Göttliche im Menschen ist, das ihm von Gott in seiner Gnade zuteil geworden ist« (29). Für Thomas stellt sich damit aus theologischen Gründen das Thema der Demut, das die aristotelische Vorstellung der Autonomie des Menschen einengt.
Rolf Geiger befragt »Aristoteles über die Tugend von Bürgern« (37–58) und zeichnet dabei auf der Grundlage der Politik (Pol. III 4) die übliche Interpretation nach, »dass nur die Herrscher Phronesis besitzen, die beherrschten Bürger jedoch nur wahre Meinungen« (53). Dieser Interpretation widerspricht Geiger, da die Bürger andererseits dadurch bestimmt werden, dass sie an beratenden oder richterlichen Ämtern der Polis teilnehmen dürfen, für die sie ein volles Überlegungsvermögen, also Phronesis besitzen müssen (Pol. III 1, 1275 b 18 f.), was sich dann auch mit der Gedankenführung der Nikomachischen Ethik verknüpfen lässt (EN VI 8, 1141 b 31 f.).
Dagmar Kiesel leitet die Tugendlehre Augustins (59–85) von Platon her und entfaltet sie an der bekannten Gleichsetzung von Tugend mit der Liebe zu Gott mit dem guten Willen, deren Intention sie folgendermaßen zusammenfasst:
»Alles rechte Handeln lässt sich […] in der Maxime fassen: ›Liebe und tu, was du willst [...]‹! Unter der Voraussetzung, dass der Wille identisch ist mit der Gottesliebe kann der Mensch bedenkenlos dem eigenen Willen folgen« (73). Nach der Ausarbeitung seiner Gnaden- und Erbsündenlehre grenzt Augustin diese optimistische Sicht auf die sittliche Kraft des Menschen auf den paradiesischen Naturzustand ein. Abschließend weist Kiesel auf die Ambivalenz bei Augustin hin, die zwischen dem festgestellten Eigenwert »irdischer Güter und der Meinung [besteht], dieselben dürften ausschließlich zum Zwecke der Erlangung der ewigen Glückseligkeit bei Gott gebraucht werden« (80).
Im Beitrag »Tugenden im antiken rabbinischen Judentum« (87–107) arbeitet Susanne Talabardon zunächst heraus, dass die Quellensprachen der jüdischen Tradition zwar keine Termini für Ethik oder Moral kennen, jedoch in ihren relevanten Texten den Reflexionen über angemessenes menschliches Verhalten höchste Bedeutung einräumen. Da die spätantike jüdische Gemeinschaft plura-listisch verfasst war und das rabbinische Judentum zunächst nur marginale Bedeutung hatte, konnte sich erst »etwa zeitgleich mit der Fertigstellung des Babylonischen Talmud (7./8. Jh.) […] die ›rabbinische‹ Interpretation der Tradition als normative Form des Judentums durchsetzen« (89). Als Äquivalent der Tugend erscheint jetzt das Studieren der Tora und das Leben nach ihren Geboten, was Talabardon »als strikt auf eine gelehrte Elite ausgerichtet« (103) kennzeichnet. Es gelte zwar allen jüdischen Männern, überfordere sie jedoch mehrheitlich (105).
Cleophea Ferrari arbeitet die Rezeption und Weiterführung der antiken »Tugendethik in der mittelalterlichen Philosophie der islamischen Welt« (109–129) heraus, wobei die Politeia von Platon nur unvollständig übersetzt wurde, während Aristoteles’ Nikomachische Ethik mehrfach übersetzt und von vielen wichtigen arabischen Philosophen rezipiert wurde. Da im Islam der Mensch nicht autonom Gut und Böse qualifizieren kann, sondern dazu auf Gottes Mitteilungen angewiesen ist, stellt sich für die Rezeption die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Philosophie. Hier ergibt sich bei den arabischen Philosophen »die Hinwendung zum Gedanken, religiöse Haltung mit philosophischer Erkenntnis zu verbinden […]. Es ist die Idee, dass Glaube und Vernunft eine Verbindung eingehen können, die ethisches Handeln möglich macht und dabei gottgewollt und orthodox ist« (124 f.).
Georges Tamer stellt seinen Beitrag unter die gegenwärtige De­batten beherrschende Frage: »Ist Gewalt eine Tugend im Koran?« (131–152) Einerseits betont der Koran an vielen Stellen die Barmherzigkeit Gottes, andererseits beschreibt er nicht nur Gewalttaten der Vergangenheit, sondern fordert zu ihnen für die Gegenwart und Zukunft auf. Tamer stellt das Thema der Gewalt im Koran an Höllenstrafen, vergangenen Strafgeschichten, Kriegshandlungen und gegenüber Frauen dar. Seine historisch-kritische Interpretation dieser Aussagen führt ihn zu der Erkenntnis, dass der Koran »in einem Kontext entstanden [ist], in dem Gewaltanwendung […] zu den lobenswerten Verhaltensweisen der Araber gehörte« (146). Der Koran orientierte sich in seiner Verkündigung an dieser Vorstellungswelt. Da aber dieser historische Kontext nicht mehr existiert, sind die Aussagen zur Gewaltanwendung nicht mehr normativ. Damit ist Gewalt »keine Tugend im Koran« mehr, zumal sie auch nicht »zu den fünf Säulen des Islams« (150) gehört.
Christoph Horn gibt mit seinem Beitrag »Zeitgenössische Tu­gendethik« (153–177) einen Überblick über diese Richtung der Ethik. In ihr wird die Frage nach dem guten Leben, aber auch nach dem Lebenskontext oder der moralischen Motivation gestellt. Horn stellt mit Alaisdar MacIntyre, Bernard Williams, Martha Nussbaum, Onora O’Neill und dem politischen Perfektionismus fünf bedeutende Ansätze der gegenwärtigen Tugendethik vor. Abschließend gelangt er zu einer Kritik der Tugendethik, da der Tugendbegriff »lediglich die ideale Form der Realisierung moralischer Eigenschaften« be­zeichne, während »konkrete Moralität stets ein Handeln unter nicht-idealen Bedingungen bedeutet«, womit ihm »das Tugendthema geradezu als theoretischer Luxus« (173) erscheint.
Im letzten Beitrag stellt Stefan Lorenz Sorgner die Frage, ob die »Förderung von Leistungsfähigkeit als elterliche Tugend« (179–199) angesehen werden kann. Er beginnt dazu mit seiner Kritik an Mi­chael Sandel, der jegliches genetisches Enhancement ablehnt, das Eltern an ihren Kindern durchführen lassen, da dieses nicht mit der Tugend der bedingungslosen Liebe zu vereinbaren sei: »Die elterliche Liebe sollte unabhängig von den Talenten und Eigenschaften sein, die das eigene Kind zufälligerweise besitzt.« (181) Sorgner kritisiert Sandels Auffassung, da einmal die psychologischen Forschungsergebnisse von Theodore Millon aufgezeigt ha­ben, dass die bedingungslose Liebe der Eltern zu narzisstischen Persönlichkeitsstörungen der Kinder führen können. Außerdem sind viele Situationen denkbar, bei denen der »Einsatz einer genetischen Veränderungstechnik als tugendhaft qualifiziert werden kann« (196).
Diese Aufsatzsammlung vermittelt viele Perspektiven auf den Sachverhalt der Tugend und damit wertvolle Anregungen, die hoffentlich die Basis für weitere Auseinandersetzungen mit diesem noch nicht abgeschlossenen Thema sein können.