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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1278–1281

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Brunozzi, Philippe, Dhouib, Sarhan, u. Walter Pfannkuche[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Transkulturalität der Menschenrechte. Arabische, chinesische und europäische Perspektiven.

Verlag:

Freiburg: Verlag Karl Alber 2013. 325 S. = Welten der Philosophie, 11. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-495-48581-1.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Johannsen, Friedrich [Hrsg.]: Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog. Konflikt- oder Integrationspotential? Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2013. 194 S. = Religion im kulturellen Kontext, 2. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-17-022240-3.


Die Menschenrechte beanspruchen universelle, kulturübergreifende normative Autorität. Dies macht es notwendig, sowohl die Menschenrechtsdiskurse über den »westlichen« Horizont hinaus wahrzunehmen als auch das Verhältnis von Menschenrechten und Religionen bzw. ihre Bedeutung im Kontext des interreligiösen Dialogs zu bedenken. Beide Bände sind Sammelbände, interdisziplinär und interkulturell angelegt. Beide nehmen speziell China und die arabische Welt bzw. den Islam in den Blick. Und beide sind inhaltlich so breit aufgestellt (ohne disparat zu werden) und nicht zuletzt in interdisziplinären Querbezügen so informativ, dass man Sachregister – in Publikationen der Art in der Tat unüblich – für den intensiveren Gebrauch durchaus vermisst.
Der von Philosophen der Universität Kassel verantwortete Band (Brunozzi et al.) beginnt mit sieben Beiträgen »aus europäischer Perspektive« und lässt in zwei weiteren Teilen noch einmal so viele aus arabischer und chinesisch-taiwanesischer Perspektive folgen. Die grundsätzlichen Artikel bearbeiten begründungstheoretische und konzeptionelle Fragen und thematisieren immer wieder die kulturelle Anschlussfähigkeit der Menschenrechte. Zwei Beispiele: W. Pfannkuche entwickelt ein minimalistisches Begründungsmodell für normative Ansprüche mit dem Ziel möglichst breiter Zustimmung. Dazu greift er auf einen formalen Moralbegriff zu­rück und zeigt die Notwendigkeit politischer Prozesse zum Umgang mit dessen Grenzen auf. H. J. Sandkühler geht von der Menschenwürde als Basisnorm aus, die in den Menschenrechten und in Verfassungen konkretisiert wird. Durch Verrechtlichung wird die »Menschenwürde« gleichsam moralisch neutralisiert; der notwendige und hinsichtlich der Genese kulturell gebundene moralische Gehalt kann nicht (mehr) durch die Berufung auf eine universale Moral gewahrt werden, vielmehr gibt es ethische Letztbegründungen intra- und interkulturell nur in Pluralität und Konkurrenz. Transkulturalität bedingt die Säkularisierung der Norm, die dadurch je partikularer Begründungen fähig bleibt.
Es werden politische Menschenrechtskonzeptionen diskutiert und John Rawls’ »Menschenrechtsminimalismus« kritisiert, die notwendige Einseitigkeit individueller Menschenrechte (Menschenrechte schützen den Einzelnen, nicht Gemeinschaften) wird mit der Forderung nach Kollektivrechten (etwa Minderheitenschutz) konfrontiert. M. Katzer begegnet Kritikern, die eine Realisierbarkeit der Menschenrechte in nichtwestlichen Gesellschaften aufgrund kulturell unterschiedlicher Werthaltungen bezweifeln, indem er auf kulturvergleichende Forschungen zu Werteinstellungen und die darauf aufbauende Theorie des Wertewandels von R. Inglehart zurückgreift und damit zumindest ein statisches Bild der Unterschiede infrage stellt.
Die Beiträge zum arabisch-islamischen Bereich (S. Dhouib, A. Lahkim Bennani, M. Turki) zeigen eine lebhafte, kritische – und keineswegs dem Westen entlehnte – Debatte darüber, was etwa der Kulturpluralismus für die Transkulturalität der Menschenrechte bedeutet, um zu einer interkulturellen Bestimmung der Menschenrechte jenseits von Eurozentrismus und Islamisierungstendenzen zu gelangen. Ansätze bieten Philosophen wie M. al-Jabri, aber auch die arabische Philosophie des 12. Jh.s sowie aktuelle Entwicklungen in der arabischen Welt. Das islamistische Muster hingegen, den Ursprung der Menschenrechte mit der Offenbarung des Islam, also religiös und nicht säkular zu erklären, wird in seinem Hauptinteresse entlarvt: die Menschenrechte als gottgegeben von menschlicher Erkenntnis und Erfahrung loszulösen.
In China wurden die Menschenrechte 2004 in die Verfassung aufgenommen, die notwendigen Aneignungsprozesse stellen die sozio-kulturelle Realität allerdings vor große Herausforderungen. Ein wichtiger Aspekt ist die hohe Bedeutung der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft im Konfuzianismus, die mit subjektiven Rechten und Individualitätskonzepten in Spannung steht (S. Gan). Der Mensch ist ein moralischer Akteur und wird Mensch (erst) durch einen (zwischenmenschlichen) Humanisierungsprozess. Menschenrechte können daher nicht naturrechtlich begründet werden, sondern bedürfen einer »Vorschusstheorie« (T. Zhao), sie werden aufgrund von Pflichterfüllung geltend gemacht. P. Brunozzi analysiert drei bedeutende chinesische Menschenrechtsansätze, die in ihrer moralphilosophischen Perspektive einen bemerkenswerten Optimismus im Blick auf die Auflösung normativer Konflikte aufweisen. Für J. Chen ist der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte nicht theoretisch allgemein zu be­stimmen, sondern folgt – so auch die ursprüngliche Funktion der Menschenrechte – daraus, dass die Menschenrechte in Bezug auf unmenschliche Verhältnisse und bestimmte Unrechtserfahrungen begründet werden. Die Begründungen sind faktisch kontext- und kulturrelativ, entscheidend ist, dass sie allen Menschen den gleichen Wert zuschreiben und entsprechende Rechtsverletzungen verbieten.
Es ist reizvoll, das zweite zu besprechende Buch (ed. Johannsen, Hannover) sozusagen in der Verlängerung des ersten aufbauend auf die grundlegenden philosophischen und moralisch-ethischen Erörterungen zu lesen. Viele Fragestellungen tauchen wieder auf und werden auf den interreligiösen Dialog bezogen; hier kann freilich nur mit einigen Strichen auf den Gehalt des Bandes eingegangen werden. Eine unverkennbare Stärke zeigt sich im didaktisch wohlüberlegten Aufbau. Der Herausgeber gibt eine umsichtige, problemorientierte knappe Übersicht zum Dialogbegriff, zu Dialog und Wahrheit, zum interreligiösen Dialog und dem Ort der Menschenrechte darin. Ebenso hilfreich im Sinne einer Einführung ist der grundsätzliche Beitrag von H. Noormann zum Verhältnis von Menschenrechten und den Religionen (Wiederabdruck). Dessen Quintessenz ist die »Verwurzelung im Eigenen«, die die (selbstkritischen) spirituellen Maßstäbe setzt, um sich zu bewähren für eine bewohnbare Erde, auf der Platz für alle ist (übrigens mit einer interessanten Lesart von Lessings Nathan, die einen allgemeinen humanistischen Optimismus hinter sich lässt). Christliche Beiträge betonen das Potential einer ökumenischen öffentlichen Theologie, jenseits von Nationalismus und Zivilreligion den religionsoffenen Menschenrechtsdiskurs zu stärken (W. Vögele), und entfalten unter Bezugnahme auf P. Sloterdijks Forderung eines Menschenrechts der »Askese« (urspr. »Üben«, Sloterdijk: »Ausreise aus der Faktizität«) den Gedanken der Sakralität des Menschen (H. Joas) in befreiender Verantwortung (ausführlich bibeltheologisch: A. Stimpfle). Mit hermeneutischen und biblisch-hermeneutischen Erwägungen fundiert U. Körtner seine theologische Perspektive auf Menschenwürde und Bioethik, die anstelle einer Resakralisierung des Natürlichen (»nach dem Tode Gottes«) auf die rechtfertigungstheologische Rekonstruktion der Schöpfungslehre abzielt. Auch eine russisch-orthodoxe Sicht ist enthalten, allerdings durch ein redaktionelles Caveat und die Dokumentation der offiziellen Erklärung der ROK zu den Menschenrechten von 2008 ergänzt. Prägnant und gut strukturiert gibt der islamische Beitrag ( M. Al Hassan Diaw) Auskunft über »Das Verhältnis von Menschenrechten und Gottesrecht (Scharia) im Islam«. Er skizziert Exegese und Normenbildung im Islam und bespricht die islamischen Menschenrechtserklärungen (1981, 1990, 1994) einschließlich der Islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland vor dem Hintergrund einer Kritik des politisch ideologisierten Islamismus. M. Brumlik legt die jüdischen Wurzeln der Würde des Menschen frei, indem er den Bogen von universalistischen Zügen der biblisch-prophetischen Kritik über das rabbinische Judentum zur narrativ gefassten Heiligkeit der Individualität jedes Menschen schlägt. Für den chinesischsprachigen Raum führt W. Li in Grundformationen des Konfuzianismus und die Ankunft des Menschenrechtsdiskurses in China ein. Unter den spezifischeren Themen eingeordnet ist schließlich der Beitrag von P. Antes, der Konflikte zwischen religiösen Vorschriften und staatlicher Gesetzgebung anhand aktueller Beispiele aus den Islamdebatten beleuchtet (Religionsfreiheit »als gesellschaftlicher Störfaktor«?).
Der Kohlhammer-Band, leider oberflächlich lektoriert, leuchtet das ganze Spektrum seines Themas aus und hat streckenweise Lehrbuchcharakter. Das Buch aus dem Hause Alber, klein gedruckt, aber qualitativ ansprechend, bietet dem philosophischen An­spruch entsprechende Diskussionsbeiträge. Beide Bücher geben instruktive Einblicke in die Vielschichtigkeit theoretischer und praktischer Menschenrechtsdebatten und leiten zu eigener Kriterienbildung an – eine aus unterschiedlichen Blickwinkeln lohnende Lektüre.