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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1276–1278

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Böckel, Holger

Titel/Untertitel:

Einführung in die Wirtschafts- und Unternehmensethik. Begründung aus ihren kulturellen, religiösen und ökonomischen Wurzeln. Ein Lehrbuch.

Verlag:

Berlin: EB-Verlag Dr. Brandt 2015. 209 S. Kart. EUR 22,80. ISBN 978-3-86893-205-8.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Mehr noch als die wirtschaftsethischen Veröffentlichungen des vielseitigen Theologen Nils Ole Oermann kann man die »Einführung in die Wirtschafts- und Unternehmensethik« des Gießener Privatdozenten, Pfarrers und Organisationsberaters Holger Böckel eine theologisch begründete »Wirtschaftsethik für Andere« nennen. Sie entfaltet sich konsequent innerhalb des Richtungssinns der Gattungsgeschichte protestantischer Wirtschaftsethik, die selbst wiederum nur vorwegnimmt, was der protestantischen Sozialethik mit ihrer disziplinär gewachsenen Lehrbuchtradition noch bevorsteht. B. lehrt in Bielefeld am Institut für Diakoniewissenschaften und Diakoniemanagement (vgl. dessen: Führen und Leiten. Dimensionen eines evangelischen Führungsverständnisses. Ein Handbuch, Berlin 2. Aufl. 2016). Das vorliegende Buch ist jedoch hervorgegangen aus der Lehrtätigkeit B.s an der Technischen Hochschule in Darmstadt und richtet sich vor allem an künftige Techniker und Betriebswirte, denen neben Grundkenntnissen in Teamentwicklung und Führung auch Grundlagen der Unternehmensethik vermittelt werden sollen. B. stellt die wirtschafts- und unternehmerische »Begründung aus ihren kulturellen, religiösen und ökonomischen Wurzeln« daher bewusst in einen Kontext, der nach dem eingestandenen Zusammenbruch der intermediären Funktionen der Volkskirche vielleicht noch allzu optimistisch als »großkirchlich« beschrieben wird.
Im letzten der vier aufeinander aufbauenden Kapitel werden »Schritte zur wirtschaftsethischen Entscheidung« eingeübt, in denen die Stärken der zuvor vorgestellten (Wirtschafts- und Unternehmens-)Ansätze miteinander kombiniert werden. Dieses Entscheidungsmodell konkretisiert sich am Lösungsvorschlag eines einleitend vorgestellten Fallbeispiels. Hier geht es um das ethische Dilemma eines für die Qualitätsprüfung von Automobilteilen zuständigen Ingenieurs in einem Zulieferunternehmen, der feststellt, dass eine die Tests abschließende Messserie versehentlich unterbrochen wurde.
Die Darstellung der komplexen Sachverhalte und Zusammenhänge in den einzelnen Kapiteln mündet erstmals im Zusammenhang der Grundbegriffe »Ethik, Ethos und Wirtschaft« ein in sich vertiefende »Reflexionen« dieser eingangs dargestellten Situation, und sie wird erläutert durch eigene oder übernommene Grafiken, in denen die begrifflichen Konstellationen einprägsam und an­schaulich visualisiert werden. Die eigentliche Begabung B.s liegt jedoch in der Generierung narrativer Zusammenhänge. »Grundansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik« im dritten Kapitel erläutern und vertiefen so immer wieder »Kulturelle, religiöse und ethische Grundlagen des Wirtschaftens«, die B. bereits im zweiten Kapitel vorgestellt hat, während umgekehrt die historische (religions-, moral- und wirtschaftsgeschichtliche) Dimension des Wirtschaftens das sich überlagernde Beziehungsgeflecht auf der Mikroebene (individualpolitisch), der Mesoebene (unternehmenspolitisch) und der Makroebene (ordnungspolitisch) des Wirtschaftens nicht nur durch Einzelbeispiele veranschaulicht.
Die skizzierenden Kennzeichnungen von Feudalismus und protestantischem Arbeitsethos, von Merkantilismus und sozialer Marktwirtschaft werden dabei fortgesetzt bis in die globalen Auswirkungen neoliberaler Theorie und Praxis – und dann sachgemäß ergänzt durch die Darstellung entsprechender Zusammenhänge von »Arbeit, Handel und Ethik im Kulturkreis des Islam« (und des Konfuzianismus).
Die Vorstellungen von Tugend- und Werteethik, deontologischer und teleologischer Ethik als »Paradigmen der Wirtschaftsethik« ergänzen einerseits diese historische Darstellung, sie leitet aber auch schon über zu den wirtschaftsethischen Grundansätzen, denen das folgende Kapitel gewidmet ist. Normative Ökonomik (Karl Homann, Andreas Suchanek), integrative Wirtschaftsethik (Peter Ulrich) und Governance-Ethik (Josef Wieland) werden ethisch-paradigmatisch charakterisiert, aber auch den präferierten ökonomischen Strömungen zugeordnet (Neue Institutionenökonomik, Vertragskosten- und Netzwerk-Theorie).
B.s Buch kann die Gattungsbezeichnung »Lehrbuch« im zusätzlichen Untertitel mit Stolz tragen. Aber ironischerweise verweist ausgerechnet ein Mangel, der in einer Neuauflage neben den in diesem Geschäft stets fälligen Aktualisierungen beseitigt werden sollte, auf sein charakteristisches Gattungsmerkmal. Bei dem am Ende vollständig entwickelten eigenständigen Lösungsmodell, demzufolge jener Ingenieur nach seinem anfänglichen Eingeständnis den Testfehler möglichst mit, notfalls aber auch ohne Zustimmung seines Vorgesetzten veröffentlichen soll, ist die Kombination von Spieltheorie und unterschiedlichen Ansätzen in der Entscheidungsmatrix originell, nicht aber die vorgestellte Sequenzierung in sieben Schritten, und nicht einmal die integrierte Rückkopplungsschleife. Beides geht vielmehr auf einen Vorschlag von Heinz-Eduard Tödt zurück, den er 1977 erstmals in der ZEE vorgestellt hatte (21 [1977], 81–93) und der vermutlich über anfänglich protestantisch und kontinentaleuropäisch geprägte, dann aber sich internationalisierende Societas Ethica sich im angelsächsischen Raum ausbreitete. Von dort aus wurde er reimportiert und ist inzwischen nicht nur in der Unternehmens- und in der Medizinethik, sondern auch in der Schulethik zum Standard geworden (vgl. Barbara Bleisch/Markus Huppenbauer, Ethische Entscheidungsfindung. Ein Handbuch für die Praxis, Zürich 2011).
Das Buch spiegelt im Ganzen also Glanz und Elend der gegenwärtigen Übergangssituation, in der von der amerikanischen business ethics (McCoy und andere) bis hinein in die Tradition des St.Galler Managementmodells (Arthur Rich und andere) überall protes­tantische Theologen die eigentlichen Gründerväter waren und wo die Entwicklung immer wieder auch in das durch den frommen Laien Robert Greenleaf geprägte Leitbild des Servant Leadership einmündet. Es entfaltet in Gestalt eines gelungenen Lehrbuches aktualisierend und unaufdringlich werbend das Potential eines christ-lichen Traditionsmusters – während der resignierende Ab­schied von der Volkskirche systematisch-theologisch bereits einem angeblich versagenden liberalen Paradigma zugeschoben wird (vgl. Gerhard Wegner, Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas?, Leipzig 2014), nachdem dessen Erbe durch eine ganze Generation historisierender Praktischer Theologen und Ethiker aufs Spiel gesetzt wurde. Wie man hier theologisch-paradigmatisch lernen kann, hat es aber am Anfang einer neuen Epoche seine Zukunft vielleicht noch vor sich: als implizit prozesstheologisch begründete Öffentliche Theologie.