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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1273–1275

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Senkel, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geistes Gegenwart. Zur religiösen Grundierung der Lebenswelt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 200 S. = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 18. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04185-5.

Rezensent:

Christian Danz

Der hier anzuzeigende Band nimmt ein Stichwort des Münchener Theologen Hermann Timm auf und variiert es vor dem Hintergrund der religiösen Lage des 21. Jh.s. Hervorgegangen ist der von dem Hallenser Privatdozenten der Systematischen Theologie Chris­tian Senkel herausgegebene Band aus einem Symposium, das im Mai 2014 anlässlich des 75. Geburtstags von Timm an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt wurde. Dieser hatte zunächst in seinem Buch Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags (1983) und sodann in seiner Phänomenologie des Heiligen Geistes (1985/1992) eine cum grano salis schöpfungstheologische Neuformulierung der Pneumatologie vorgelegt, in der religiöse Phänomene des Alltags in den Fokus rücken. Die Beiträge des Bandes nehmen diesen Impuls auf und thematisieren die »Lücke« (5) zwischen Geist und Gegenwart, die sich auf vielfältige Weise denken lässt.
Eröffnet wird der Band mit einer präganten Einleitung des Herausgebers, welche die Linien von Timms alltagshermeneutischer Pneumatologie bündig zusammenfasst (»Statt eines Vorwortes«, 5–9). Es folgen zwei theologiehistorische Beiträge, die das Thema der Geistesgegenwart in eine christentumsgeschichtliche Perspektive rücken. Markus Buntfuß wendet sich dem Motiv »Ästhetischer Protestantismus«. Auch eine Umformung des neuzeitlichen Christentums (13–28) zu. Er zeigt minutiös auf, dass die Umformung des modernen Protestantismus in der Aufklärung von Anfang an auch eine ästhetisch-religiöse war, also keinesfalls lediglich eine ethische Transformation. Beide Dimensionen stehen vielmehr in einem Wechselverhältnis. Zwar habe die ethische Christentumsdeutung die ästhetische zunächst überlagert (14–18), aber die zweite und dritte Generation der Wort-Gottes-Theologie entdeckte in den 1960er Jahren die Ästhetik zunächst im Gewand der Offenbarungstheologie wieder (18 f.). Vor diesem Hintergrund macht sich Buntfuß auf die Spurensuche, arbeitet die in den theologischen Neubeschreibungen seit der Aufklärung angelegte ästhetische Di­mension heraus und korrigiert »einseitige[] Deutungsmuster[]« (27) der Theologiegeschichte. Jörg Dierken untersucht in seinem Beitrag »Der junge Hegel und Schleiermacher. Dissense um Ra-tionalisierungsmuster des Romantischen« (29–44) untergründige Überlagerungen im Denken der beiden späteren Berliner Antipoden. Hegels Kritik an den Reden Schleiermachers in Glauben und Wissen täusche über beide Verbindendes hinweg. Der Gefühlsbegriff, von Hegel in seiner Kritik 1802 ausgespart, steht nämlich selbst im Zentrum seiner frühen Texte, die im Horizont von Leben und Liebe eine Vereinigungsphilosophie ausarbeiten. Noch in der späteren Umformung seiner frühen Konzeption in eine spekula-tive Philosophie bleiben das »transzendentalphilosophische Erbe« sowie eine »Endlichkeitsbrechung« (40) wirksam, Momente, die bei Schleiermacher im Fo­kus des Interesses stehen.
Das Motiv einer religiösen Grundierung des Alltags, das Timm eingeschärft hatte, wird in den Beiträgen von Wilhelm Gräb (»Die Präsenz des Religiösen«, 45–57) und Hans-Günter Heimbrock (»Schwei­gen als Grenzfall von Theologie«, 58–76) aufgenommen. In einer kulturhermeneutischen Perspektive geht Gräb das Thema an und arbeitet die religiöse Dimension des Alltagslebens heraus, die stets schon von Sinnunterstellungen ausgeht, die sich nicht einholen lassen (48). Freilich müssen diese Phänomene in der Moderne nicht ausschließlich religiös gedeutet werden, sie kommen auch ohne eine solche Deutung aus. Das kulturelle Phänomen des Schweigens, selbst ein geformtes und kulturell vermitteltes Ausdrucksphänomen, beleuchtet Heimbrock in seinen Ausführungen. Es repräsentiert gleichsam das Unsagbare und Undarstellbare, welches dem Sprechen zugrunde liegt (75 f.). Schöpfungstheologische Neuperspektivierungen der Pneumatologie arbeiten die Ausführungen von Klaas Huizing (»Inszenierte Geistesgegenwart«, 77–95), Iris Kreile (»Rede, dass ich Dich sehe. Die Schöpfungsweisheit als Grenzgängerin«, 96–104) und Joachim Kunstmann (Der lange Weg der Christen zum Genuss, 105–126) heraus. Alle drei plädieren im Anschluss an Timm für eine weisheitliche Perspektive auf die biblischen Texte, die an die Stelle der überlieferten harmatiologischen und soteriologischen Deutung tritt. Bei Huizing ist es eine weisheitliche Relektüre der biblischen Texte als ›Mittelglied‹ beider Testamente, die als »Korrektur der harmartiologischen Verbiesterung der Theologie« (78) vorgeschlagen wird. Eine »Poetik des Heiligen Geistes« (82) ersetzt damit die traditionelle soteriologische Bindung des Geistes. Iris Kreiles »mimetische[r] Versuch über die Weisheit« (97) reformuliert das Entzogensein der Schöpfungsweisheit angesichts von deren Festlegung auf bestimmte Funktionen. Eine weisheitliche Perspektive auf das Christentumsverständnis bietet auch Kunstmann in seinen Ausführungen über den Genuss. Gott ist im Genuss der Schöpfung zu finden. »In Spiritualität und Liebe wird das Reich Gottes am deutlichsten spürbar.« (126) Damit tritt auch bei ihm die Lebensbejahung an die Stelle der alten Sündenlehre.
Das Thema eines weisheitlichen und spirituellen Christentumsverständnisses nimmt Matthias Morgenroth in seinen Überlegungen zu »Heute schon gelebt? Gegenwart war gestern« (127–145) auf. Er analysiert im Anschluss an den Jenaer Soziologen Hartmut Rosa die Moderne als eine beschleunigte Gesellschaft. Das führe zu Gefühllosigkeit und Entfremdung, von der längst auch die traditionellen Entschleunigungsmedien der Kunst betroffen sind (138f.). Eine Therapie erwartet er von einer Aufnahme ganzheitlicher Konzeptionen und einer Neubesinnung auf spirituelle Erfahrungen (139–145). Das hat Konsequenzen für die Theologie. Diese wird gleichsam selbst zur Mystagogie, zu einem Teil der »Suchbewegung nach spirituellen Erfahrungen« (144), also nach der wirklichen Religion. Der Beitrag von Marianne Schröter und Chris­tian Senkel widmet sich dem Thema »Evangelischer Symbolismus. Wandel des Konfessionellen und Sprache der Religion« (146–159). Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Betonung der Konfessionalität sowie einer Moralisierung der Diskurse im Protestantismus plädieren sie im Anschluss an Timm für eine phänomenologisch-ästhetische Symbolisierung des Alltags. Anne M. Steinmeier nimmt in ihren Ausführungen über »Gesten in der ›Aura des Sinns‹« Überlegungen von Timm zur Neuformlierung der Seelsorge auf (160–182), durch die die traditionelle Engführung der Seelsorge im Protestantismus auf eine metaphysische Seelenkonzeption überwunden und in einer leiblichen Dimension erweitert werden soll. Seelsorge wird zur Lebenskunst, die sich in der Welt der Bilder sowie des Tanzes ihren Ausdruck verschafft.
Mit einer schöpfungstheologischen Reformulierung der Pneumatologie geht eine Neubewertung des Alten Testaments einher. Insofern ist es nur konsequent, wenn der Band mit dem Beitrag »Anthropologie des Alten Testaments« von Ernst-Joachim Waschke endet (183–196). Die von Waschke skizzierte theologische Grundlegung setzt mit Überlegungen zur Spannung von historischen und theologischen Perspektiven auf das Alte Testament ein, betont die Alternativlosigkeit einer historisch-kritischen Lesart und expliziert grundlegende Motive alttestamentlicher Anthropologie an­hand einer Diskussion von Ps 8, 144 und Hi 7.
Insgesamt bietet der Band eine facettenreiche Deutung alltagsreligiöser Phänomene, die auf eine Neuformulierung der Pneumatologie zielen. Diese wird in den Beiträgen mit der religiösen Le­benswelt verbunden, die durch die überlieferte soteriologische Fassung der Geistlehre aus dem Blick zu geraten droht.