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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1255–1257

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jani, Anna

Titel/Untertitel:

Edith Steins Denkweg von der Phänomenologie zur Seinsphilosophie.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2015. 404 S. = Epistemata Philosophie, 556. Kart. EUR 49,80. ISBN 978-3-8260-5604-8.

Rezensent:

Marcus Knaup

Für eine Festschrift anlässlich des 70. Geburtstages von Edmund Husserl (1859–1938) im Jahre 1929 verfasste Edith Stein (1891–1942) einen philosophischen Dialog. Die Situation ist wie folgt: Husserls Geburtstagsgäste haben sich bereits verabschiedet, als er ein Klopfen an der Tür vernimmt. Der in einen weißen Dominikanerhabit mit schwarzem Mantel gekleidete Mann stellt sich sehr bald als der große mittelalterliche Denker Thomas von Aquin (1224/25–1274) vor. Husserl, der Begründer der Phänomenologie, und der Vertreter mittelalterlicher Scholastik kommen ins Gespräch und beginnen miteinander zu philosophieren. Der Dialog musste für die Husserl-Festschrift auf Intervention M. Heideggers (1889–1976) in einen »ordentlichen« Aufsatz umgeändert werden. Heute sind beide Texte in der Edith-Stein-Gesamtausgabe (ESGA 9) zugänglich. Es wird hieran jedenfalls sehr schön deutlich, was Edith Stein in ihrem Philosophietreiben von Bedeutung war: Ihr ging es um eine Begegnung von Phänomenologie und klassischer Metaphysik, darum, »moderne« und »mittelalterliche« Philosophie in ein Gespräch zu bringen. Stein ist stets Phänomenologin geblieben und hat als solche gearbeitet. Man kann ihr Werk also nicht in eine phänomenologische und eine neuscholastische Phase einteilen. Ihr Ansatz kann als innovativ bezeichnet werden.
Mit der Frage, welche Rolle Edith Stein innerhalb der frühen phänomenologischen Bewegung sowie in der neuscholastischen Strömung der 1930er Jahre spielte, beschäftigt sich die von Anna Jani vorgelegte Arbeit, die 2013 von der Universität Budapest als Dissertation angenommen wurde, betreut von István M. Fehér, der im Fachbereich Geschichtswissenschaft die Professur für Ideengeschichte innehat. J. wurde 1980 in Budapest geboren und ist heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe für Hermeneutik am Institut für Philosophie der Eötvös Lorand Universität zu Budapest tätig. Sie hat schon eine kleinere Arbeit des ungarischen Phänomenologen László Tengelyi (1954–2014) übersetzt und arbeitet derzeit u. a. an der Übersetzung von Edith Steins Hauptwerk Endliches und ewiges Sein. Aufstieg zum Sinn des Seins (ESGA 11/12) ins Ungarische. Für diese nicht einfache und bedeutsame Aufgabe sei ihr schon an dieser Stelle viel Erfolg gewünscht. Mit E. Stein hat sie ja ein gutes Vorbild in Sachen Übersetzungen, wenn wir an Steins Newman-Übersetzungen und nicht zuletzt ihre Thomas-Übersetzungen denken.
Die insgesamt 402 Seiten umfassende Arbeit ist in vier Teile untergliedert, in denen sich J. Stein dadurch nähert, dass sie ihre philosophischen Tätigkeiten und Überlegungen im Hinblick auf einzelne Lebensperioden darstellt und unterschiedliche philosophische Problemstellungen herausarbeitet. Der erste Teil (23–140) widmet sich Einflüssen aus der Göttinger Zeit, diskutiert insbesondere das Verhältnis zu Adolf Reinach (1883–1917) und Max Scheler (1874–1928) wie auch die Beziehung zur Husserl’schen Philosophie und richtigerweise auch dem Idealismus-Realismus-Problem, das seinerzeit in Phänomenologenkreisen für Kontroversen ge­sorgt hat. Das zweite Kapitel (141–214) widmet sich insbesondere den Phänomenen der (inneren und äußeren) Zeitlichkeit und der Räumlichkeit. Mit dem dritten Kapitel (215–268) rückt Steins Beschäftigung mit der scholastischen Philosophie in den Fokus. Dargestellt wird hier ihre Tätigkeit während ihrer Speyrer Zeit, ihre als Habilitationsschrift angelegte Arbeit Potenz und Akt (ESGA 10) sowie die Münsteraner Arbeiten. Das vierte Kapitel (269–374) greift die von Edith Stein diskutierte Frage auf, ob eine »christliche Philosophie« möglich sei, diskutiert die Arbeit Endliches und ewiges Sein unter der Perspektive der Neuscholastik und der Neubelebung der Phänomenologie, um schließlich noch auf Steins Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Denken Heideggers einzugehen.
Es gelingt J., eine Entwicklung aufzuzeigen und bei aller Unterschiedlichkeit der Werke im Steinschen opus auf Verbindendes und Gemeinsames, einen – wie sie es nennt – »linearen Weg« (14), hinzuweisen. Sie vermag es, dem Leser im großartigen Gedankengebäude Steins Orientierung zu geben. Sie tut dies insbesondere im Hinblick auf die Frage der Erlebniskonstitution und der Zeitlichkeit, eine Thematik, die sich durch Steins gesamtes Schaffen zieht. Im Einleitungsteil (14) sowie im Fazit (381) erwähnt J. auch einen dementsprechenden Untertitel der Arbeit, der allerdings weder auf dem Buchcover noch sonst im Buch abgedruckt wurde: »Erlebniskonstitution und Zeitlichkeit als Grundriss des Steinschen Gedankengangs« (14).
Nicht ganz glücklich ist der Titel der Arbeit, insofern dieser suggerieren könnte, die Phänomenologin Edith Stein sei (etwa im Zuge ihrer Konversion zum Christentum resp. der Beschäftigung mit dem Denken des Doctor Angelicus) zur Neuscholastik »konvertiert«. J. selbst legt mehrfach einen solchen »Übergang« (215) nahe: »von der Philosophie der Wesensschau, hin zur dogmatischen Philosophie, zum Gedankengang der Scholastik« (216). Sie betont, Stein sei zu ihrer Göttinger Studienzeit eine »echte Phänomenologin« (11) gewesen. »Später wich sie von der streng genommenen Phänomenologie ab und wurde eine erfolgreiche Übersetzerin der Werke von Thomas von Aquin.« (11) Schließlich aber argumentiert sie, dass Stein »nicht die Methode und die Fragestellung wechselte, sondern sich nur [der] Gegenstand der Erkenntnis vom Außen mehr und mehr löst und sich zum Innen wendet« (381).
Ohne Zweifel zählt Edith Stein zu den großen Gestalten des zurückliegenden 20. Jh.s und das Leben der in Auschwitz vergasten und von der katholischen Kirche heiliggesprochenen Frau vermag auch heute ohne Zweifel noch zu inspirieren, doch die mannigfachen und ausführlichen biographischen Bezüge in der Arbeit sind dennoch etwas störend, wenn es um das denkerisch-systematische Profil Steins gehen soll. Und wenn wir schon dabei sind: Stein war während ihrer Studienzeit eine Frau, die sich das Beten selbst abgewöhnt hat, keine Atheistin, wie J. meint (11). Und es stimmt auch nicht, dass mit dem Umzug nach Speyer, wo Stein von 1923 bis 1931 wohnte, der Kontakt zu ihren »damaligen philosophischen Zeitgenossen« »völlig« abbrach, wenn man z. B. an die uns noch erhaltenen Briefe Steins denkt (ESGA 2, ESGA 4).
Es ist wohl auch etwas zu eng, die Münsteraner Zeit Steins auf den Nenner zu bringen, ihr sei es darum gegangen, »mit dem Hilfsmittel der phänomenologischen Methode eine theologische An­thropologie« zu schaffen (19). Das stimmt für ESGA 15, so aber nicht für ESGA 14, Steins Arbeit Der Aufbau der menschlichen Person, die den Untertitel Vorlesung zur philosophischen Anthropologie trägt und im Bereich der phänomenologischen Anthropologie zu verorten ist, ähnlich wie z. B. Arbeiten von Eugen Fink (1905–1975) und Maurice Merleau-Ponty (1908–1961).
Im Fußnotenapparat liefert J. sehr viele und lange Zitate, was die Arbeit im Umfang erheblich anwachsen lässt, wohl aber auch dem mit E. Stein weniger vertrauten Leser einen Einblick in ihr Werk geben könnte bzw. hilfreich sein könnte, sollte J. ihre Arbeit einmal ins Ungarische übersetzen wollen. Wünschenswert wäre es gewesen, die Aktualität des Stein’schen Denkens herauszuarbeiten oder z. B. bei der Frage, ob eine »christliche Philosophie« tatsächlich möglich sein kann, größeren Wert auf eine kritische philosophische Reflexion zu legen als auf eine Darstellung der Position Steins. Bedauerlicherweise fehlt der Arbeit ein (freilich mit viel Mühe zu erstellendes) Sach- und Personenregister, das eine gute Hilfe für den Leser gewesen wäre. Die genannten Bedenken schmälern leider etwas den insgesamt doch ordentlichen Gesamteindruck dieser Arbeit.