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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1248–1250

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Moll, Helmut [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hrsg. im Auftrag d. Deutschen Bischofskonferenz. 2 Bde. 6., erw. u. neu strukt. Aufl.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. CIX, 1828 S. m. Abb. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-506-78080-5.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Bereits 1999 gab der Ratzinger-Schüler und in der Erzdiözese Köln für die Selig- und Heiligsprechungsverfahren verantwortliche päpst-liche Ehrenprälat und Professor an der privaten Gustav-Siewerth-Akademie in Weilheim, Helmut Moll, im Auftrage der katholischen Bischofskonferenz die erste Auflage des voluminösen deutschen Martyrologiums des 20. Jh.s heraus, das auf eine Anregung von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 1994 zurückgeht. Waren bereits in der vierten und fünften Auflage 2006 und 2010 jeweils mehr als 70 Biogramme hinzugekommen, so waren es in der hier zu besprechenden sechsten Auflage von 2015 noch einmal mehr als 100, so dass nunmehr die beachtliche Zahl von 1.000 Biogrammen überschritten ist. Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beträgt jetzt 160.
Die nach Möglichkeit mit einem Foto versehenen Biogramme sind in vier Kategorien unterteilt. Es handelt sich um Martyrinnen und Martyrer (es wird stets diese für den deutschen Sprachgebrauch eher ungewöhnliche Nebenform ohne Umlaut verwendet, im Übrigen auch stets noch die alte Rechtschreibung): 1. aus der Zeit des Nationalsozialismus – unter diese Kategorie fallen deutlich mehr als die Hälfte aller Biogramme; 2. als Opfer des Kommunismus, wobei hier ausschließlich Auslandsdeutsche zu finden sind; 3. die den »Reinheitsmartyrien« zugeordnet wurden, und zwar entweder als unmittelbar betroffene Mädchen und Frauen oder als Beschützerinnen und Beschützer; 4. aus den Missionsgebieten in Asien, Afrika und Amerika. Innerhalb der vier Kategorien erfolgt die Gliederung in der Regel nach den Diözesen bzw. Visitaturen, wobei dort wiederum eine Untergliederung nach Priestern und Laien stattfindet, sowie nach den Orden. Aufgenommen wurden, wie der Herausgeber in der Einleitung schreibt, nur solche Per-sonen, die alle drei römisch-katholischen Kriterien, die auch den Beatisierungs- und Kanonisierungsverfahren zugrunde liegen, gleichermaßen erfüllen: 1. »die Tatsache des gewaltsamen Todes«; 2. »das Motiv des Glaubens- und Kirchenhasses bei den Verfolgern«; 3. »die bewußte innere Annahme des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung« bei den Opfern (XL).
Auch wenn die Fülle des zusammengetragenen biographischen Materials beeindruckend ist und die vielen persönlichen Schicksale sehr berührend sind, für eine wissenschaftlich-historische Untersuchung erweisen sich die genannten Kategorien und Kriterien eher als Hindernis, denn nicht selten hat man als Leser das Gefühl, das biographische Material sei diesen angepasst worden. Biographische Brüche oder ambivalente Charakterzüge, die das Leben eines Menschen doch eigentlich erst spannend machen, werden kaum einmal sichtbar, vielmehr wird meist das Bild völlig makelloser Viten vermittelt – Beispiel: »Wahr und lauter war ihr ganzes Leben. Der Mutter konnte sie einmal gestehen, sie habe niemals gelogen.« (1260)
Manchmal werden Lücken in den Quellen durch Vermutungen gefüllt: »Seine Kindheit dürfte ruhig und in solcherart geordneten Bahnen verlaufen sein, wie es bei einem begabten und aufgeweckten Jungen aus einer gutkath. ländlichen Familie üblich war.« (264) An solchen Stellen wird besonders deutlich, dass es sich bei dem Werk mehr um Hagiographie als um historisch-kritische Biographik handelt. Für Außenstehende, vermutlich aber inzwischen auch für die große Mehrheit der Katholikinnen und Katholiken in Deutschland ist die absolute Rigorosität, die der Jungfräulichkeit bei den »Reinheitsmartyrien« beigemessen wird, schwer nachvollziehbar. Das wird sogar ausdrücklich eingeräumt:
»Das Blutzeugnis von Menschen, die lieber den leiblichen Tod erleiden, als der Gewalt nachzugeben und in eine Sünde [sic!] gegen die Keuschheit einzuwilligen [sic!], wird in unserer Zeit mitunter nicht gleich verstanden. Die Kirche hält es demgegenüber für wichtig, gerade jetzt diese Treue zu Christus und zur von Gott geforderten Tugend vor Augen zu stellen.« (1256)
Im Umkehrschluss bedeutet das ja nichts weniger, als dass das Verhalten von Vergewaltigungsopfern, die sich aus Todesfurcht nicht hartnäckig genug gegen ihre Vergewaltigung wehrten bzw. die sich nicht erfolgreich gegen ihre Entjungferung wehren konnten, auch noch als Sünde bezeichnet wird. Bereits in der Einleitung schreibt der Herausgeber, bei den »Reinheitsmartyrien« gehe es um Mädchen und Frauen, die »eher zu sterben als zu sündigen [sic!] bereit waren« (XLVII). So wird vielen Opfern zumindest eine Mitschuld beigemessen. In den Biogrammen wird dementsprechend großer Wert darauf gelegt, dass bei den Martyrinnen »die Unschuld unverletzt blieb« (so z. B. 1247).
Es fragt sich, inwieweit solche Maßstäbe noch mit dem neuen »Kurs der Barmherzigkeit« von Papst Franziskus vereinbar sind. Die Verabsolutierung der Jungfräulichkeit ist vermutlich auch der Grund dafür, dass männliche Missbrauchsopfer in dem Werk gar keine Erwähnung finden. Problematisch ist auch die apologetische Sicht auf das Verhalten katholischer Christinnen und Christen im Nationalsozialismus und Kommunismus. Gleich zu Beginn des Vorwortes heißt es:
»Die katholische Kirche braucht sich ihres Weges durch diese Bedrängnisse nicht zu schämen. Natürlich gibt es auch immer wieder Schwachheit und Versagen, aber ein Ganzer ersetzt hundert Halbe. Wir haben allen Grund für die Positivseite dieser Bilanz Gott zu danken.« (XXXV)
Das steht im Kontrast zu den Forschungsergebnissen etwa des Münsteraner katholischen Historikers Olaf Blaschke (Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014), wonach sich beide Kirchen im nationalsozialistischen Unrechtsstaat weithin angepasst oder sogar willig Gefolgschaft geleistet und nur partial und vereinzelt resistent gezeigt hätten. Man muss solchen Urteilen nicht zustimmen, aber man kann doch fragen, warum sie nicht einmal erwähnt werden, während doch für die evangelische Kirche mit Verweis auf eine regionalhistorische Studie zu Oldenburg als »Tatsache« konstatiert wird, dass märtyrerhaftes Verhalten selbst in der Bekennenden Kirche nicht die Regel, sondern die Ausnahme gewesen sei (XLIV f.). Es verwundert dann auch nicht, dass bei über 1.000 Biogrammen gerade einmal sechs nicht-katholische Christen – fünf evangelische und ein orthodoxer Christ – sowie eine evangelische Christin Erwähnung finden, die in ökumenischen Gruppen mit Katholikinnen und Katholiken zusammenarbeiteten. Wenn bereits im Klappentext auf die Erwähnung »nicht-katholische[r] Glaubenszeugen« hingewiesen wird, so wirkt das dann doch ein bisschen peinlich. Auch »das Motiv des Glaubens- und Kirchenhasses bei den Verfolgern« (vgl. oben) wäre kritisch zu hinterfragen. Bei den Nationalsozialisten etwa kann man ein solches Motiv keineswegs pauschal unterstellen, angefangen bei Hitler, der zeitlebens nicht aus der katholischen Kirche austrat, bis hin zu Himmler, der das zwar tat, aber seine Eltern 1936 bzw. 1941 immerhin katholisch bestatten ließ und auch selbst an den kirchlichen Zeremonien teilnahm. Auch im Falle der »Reinheitsmartyrien« kann man fragen, ob die Täter wirklich alle aus »Glaubens- und Kirchenhass« heraus töteten oder nicht vielmehr auch schlicht aus sexualpathologischen Gründen bzw. aus dem Motiv der Verschleierung einer Straftat heraus.