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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1245–1248

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Mish, Carsten

Titel/Untertitel:

Otto Scheel (1876–1954). Eine biographische Studie zu Lutherforschung, Landeshistoriographie und deutsch-dänischen Beziehungen.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 386 S. m. 3 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 61. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-55776-1.

Rezensent:

Hasko von Bassi

Er zählt zu den Vergessenen: der Kirchen- und schleswig-holsteinische Landeshistoriker Otto Scheel (1876–1954). Und ebendiese Vergessensgeschichte macht der Hamburger Studienrat Carsten Mish zum Ausgangspunkt einer facettenreichen und faszinierenden Biographie, die als geschichtswissenschaftliche Dissertation von Christoph Cornelißen (jetzt Frankfurt am Main) und Olaf Mörke (Kiel) betreut wurde.
Eröffnet wird die Arbeit mit einem wirklich furiosen Auftakt: Beginnend mit einer Schilderung der Begräbnis- und Trauerfeierlichkeiten und einer Analyse der bei dieser Gelegenheit gehaltenen Ansprachen stellt der Vf. die Frage nach der »Biographiewürdigkeit« Scheels und leitet über zu prinzipiellen Überlegungen zur wissenschaftlichen Akzeptanz des Genres Biographie in den letzten Jahrzehnten – vom »Garanten des akademischen Karrieretodes« (14) bis hin zu einem ausgesprochenen »biographical turn« der Ge­schichtsschreibung (Simone Lässig).
Die politischen Zäsuren der jüngeren deutschen Geschichte bilden zugleich Wendepunkte in Scheels Lebensweg und Einschnitte in seinem wissenschaftlichen Wirken. Ist seine Zeit als Professor in Tübingen während der letzten Jahre des Kaiserreichs geprägt von seiner Arbeit als Lutherforscher, so fällt in die Frühzeit der Weimarer Republik sein Wechsel an die Kieler Uni und die Hinwendung zur schleswig-holsteinischen Landesgeschichte. Führt der Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland zu Scheels Übernahme völkischer Ideologie und zum akademischen Kriegseinsatz als Präsident des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Kopenhagen, so finden wir ihn nach dem Zusammenbruch 1945 in Schleswig wieder und inhaltlich befasst mit der besonderen deutsch-dänischen Prägung des nördlichen Herzogtums.
In den vier Hauptkapiteln der Arbeit, die den biographischen und nationalgeschichtlichen Zäsuren folgen, nämlich »Kulturprotestantismus im Kaiserreich«, »Positionswechsel in der Weimarer Republik«, »Mobilmachung im Nationalsozialismus« und »Sinnstiftungsversuche in der Nachkriegszeit«, lässt der Vf. jeweils eine chronologische und eine systematische Perspektive einander ergänzen (25).
Die Lektüre ist ein Lesevergnügen, denn dem Vf. gelingt es, einen erzählerischen Duktus durchzuhalten, obwohl er selbst auf die zahlreichen Brüche in Scheels Lebensgeschichte hinweist und zu Recht immer wieder betont, dass eine literarische Biographie ein Leben nicht widerspruchsfreier zeichnen dürfe, als es gewesen sei (323).
Geboren und aufgewachsen in Nordschleswig (»an der Schnittstelle zwischen den Nationalitäten«, 30) als Sohn eines Pastors begann der junge Otto Scheel nach dem Abitur in Hadersleben ab dem Sommersemester 1895 ein Theologiestudium in Halle, das er ab 1897 in Kiel fortsetzte und dort 1899 abschloss. In der Kieler Zeit festigte sich seine geschichtstheologische und liberale Orientierung (42). Er wurde 1900 zum Lic. theol. promoviert mit einer Arbeit zur Christologie Augustins. Unmittelbar danach – nur zwei Tage später! – habilitierte er sich für Systematische Theologie. Als Kieler Privatdozent gewann er Anschluss an sämtliche liberaltheologischen Netzwerke (47): den Verlag J. C. B. Mohr, die Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt und den Evangelisch-sozialen Kongress. Neben die Beschäftigung mit Augustin traten die Lutherforschung und Vorlesungen zur Dogmengeschichte.
1906 wurde er als Nachfolger Karl Holls als a. o. Professor für Kirchengeschichte an die Universität Tübingen berufen. Rasch wurde Scheel in ein Großprojekt des Verlages Mohr gezogen, die RGG, bei der er schließlich für die Bereiche Dogmengeschichte und Symbolik verantwortlich zeichnete. Daneben profilierte Scheel sich in dieser Zeit weiter als Kenner Luthers, was ihm 1910 die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität einbrachte.
Der Erste Weltkrieg wurde von ihm – anders als von manchen seiner liberaltheologischen Mitstreiter wie z. B. Martin Rade – von vornherein vollkommen einseitig als Deutschland aufgezwungen und wesentlich von England initiiert aufgefasst. Mit voll tönendem Optimismus sah Scheel Deutschland – auch nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans – auf der Siegerstraße. Weshalb zweifelte er nicht, als dieser Optimismus falsifiziert wurde? Ungehemmt vertrat er – wie so viele – die absurdesten Kriegsziele: »Bauernland an Deutschlands Ostgrenze« (81). Zeitweilig konnte er seinen Drang nach aktiver Mitwirkung als Lazarettpfarrer ausleben und durch Vortragsreisen an die Westfront. Eine Biographie Martin Luthers, deren erster Band 1916 erschien, untermauerte seinen Ruf als einer der führenden Kirchenhistoriker und brachte 1917 die Ehrenpromotion der Tübinger Philosophischen Fakultät (Dr. theol. h. c. außerdem aus Oslo und Amsterdam).
Wie weite Teile des deutschen Protestantismus verweigerte auch Scheel der Weimarer Republik rückwärtsgewandt die Unterstützung. Nie stellte er die Frage nach der Verantwortung der alten Machthaber für die Katastrophe von 1918/19. In seine Kritik an den neuen politischen Verhältnissen mischten sich – zumindest phasenweise – auch antisemitische Klänge (102 f.) Nur kurz für die DDP engagiert war er dann bald Mitglied der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei. Alle Kriegsfolgen wie den Versailler Vertrag lastete er – wie die große Mehrheit des Bürgertums – der jungen Republik an. Und als gebürtiger Nordschleswiger engagierte er sich natürlich im Grenzkampf, als es 1920 zu den Volksabstimmungen in Zone 1 und 2 kam. Nach Abtretung Nordschleswigs an Dänemark suchte die Kieler Universität sich als »Vorkämpferin für das Deutschtum« (116) zu profilieren. Zum 1. April 1924 übernahm Scheel den neu geschaffenen (und eigens auf ihn zugeschnittenen) Lehrstuhl für Schleswig-Holsteinische Landesgeschichte, Reformationsgeschichte und nordische Geschichte in Kiel. In der Auseinandersetzung mit dem Dänentum changierten seine Äußerungen »zwischen Mäßigung und Konfrontation« (125 ff.) Dezidiert revisionistisch geprägt war das »Handwörterbuch des Grenz- und Aus­landdeutschtums«, an dem er führend beteiligt war (155). Obwohl seine literarische Produktion auf theologischem Felde sich erheblich reduziert hatte, wurde Scheel 1931 Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte (bis 1946).
Vom 5. März bis zum 27. April 1933 war Otto Scheel Rektor der Kieler Uni. Sein mehr oder minder erzwungener Rücktritt (176) tat seiner Sympathie für den Nationalsozialismus keinen Ab-bruch, denn 1937 (nach Aufhebung der Aufnahmesperre) trat er der NSDAP bei (179). Bewusst betrieb er »Landesgeschichte als politische Wissenschaft« (196). In seinen Schriften bediente er sich mehr und mehr völkischer Rhetorik. In das Konzept der nationalsozialis-tischen Geschichtspolitik passte seine antiwestliche Lutherdeutung. 1938 wurde er Leiter des Kieler Instituts für Volks- und Landesforschung, setzte u. a. seine Studien zu Haithabu und zu den Wikingern fort und war von 1941 bis 1943 Direktor des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Kopenhagen, wegen geringer Ko­operationsfreude auf Seiten der dänischen Wissenschaft aber mit nur sehr be­grenztem Erfolg. Wie schon während des Ersten Weltkriegs schwadronierte er nun wieder über die Gewissheit eines deutschen Sieges (218). 1945 wurde er auf eigenen Antrag hin emeritiert.
Seine letzten Lebensjahre verbrachte er im Schleswigschen, das nicht nur regional, sondern geradezu weltanschaulich zu seinem Refugium nach der Katastrophe des Nationalsozialismus wurde, wie der Vf. sehr überzeugend schildert (»ein idealisiertes Schleswig«, 271). Die ausgleichende Schleswig’sche Mentalität zwischen Deutsch- und Dänentum – allen Vereinseitigungen abhold, wie der Nachkriegs-Scheel es nun glauben möchte –, diese Mentalität sieht in dem vordem so verfemten Großbritannien (246) nun den geradezu natürlichen Verbündeten in der Verteidigung abendländischer Werte (267 f.).
Scheel hat Anteil an all den fatalen Irrtümern und Fehleinschätzungen, denen die übergroße Mehrheit der deutschen Professorenschaft über weite Strecken des 20. Jh.s erlegen ist. Hohe Bildung bei vollkommener Naivität in politischen Fragen – dieses Spannungsverhältnis prägt zahlreiche Äußerungen nicht nur, aber eben auch Otto Scheels. Wenn man sieht, wie sehr die Professorenschaft zur Irreführung des deutschen Volkes im Ersten Weltkrieg, danach zum Untergang der Weimarer Republik und schließlich zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten aktiv beigetragen hat, dann fragt man sich, wie der Nimbus dieses Berufsstandes sich bis in die Bundesrepublik hinein hat erhalten können.
Das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis dokumentiert, auf welch solidem Fundament die Studie ruht. Allein 35 Archive werden benannt. Publikationen ein und desselben Autors führt der Vf. den früheren deutschen Usancen folgend alphabetisch geordnet auf. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, allein bei den Publikationen des Protagonisten (337–342) hätte man sich doch gewünscht, dass diese – wie inzwischen üblich – in chronologischer Folge sortiert worden wären, weil dadurch schnell ein Überblick über den literarischen Ertrag der jeweiligen Schaffensperioden Scheels hätte gewonnen werden können.
Verdienstvoll ist, dass der Vf. sich die Mühe gemacht hat, sein Personenregister durch Biogramme all derer zu ergänzen, die nicht im »Personenlexikon zum deutschen Protestantismus« (2006) zu finden sind.
Die Studie besticht durch ihr sprachliches Niveau und überhaupt durch handwerkliche Sorgfalt. Der Rezensent hat selten eine so weitgehend fehlerfreie Arbeit in Händen gehabt. Lediglich eine winzige Kleinigkeit fällt auf: Der Vf. benutzt in Zitaten die Mar-kierung »sic!« nicht wie üblich ausschließlich dort, wo fehlerhafte Schreibweisen zu kennzeichnen sind, sondern durchgehend auch da, wo es sich lediglich um eine antiquierte Orthographie handelt, die aber zum Zeitpunkt der Niederschrift vollkommen korrekt war (z. B. »giebt«, »Bankerott«, »Pädagog«, »grade«, »Russenthum«, »so­cial«). Das ist an einigen Stellen etwas irritierend, aber, wie ge­sagt, nur eine Quisquilie.
Insgesamt eine herausragende und höchst empfehlenswerte Arbeit, die an einen Theologen und Historiker erinnert, dessen Le­bensweg in besonderer Weise durch das »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) geprägt wurde.