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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1239–1241

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Dorothea, u. Alec Ryrie [Hrsg./Eds.]

Titel/Untertitel:

Sister Reformations II – Schwesterreformationen II. Reformation and Ethics in Germany and in England – Reformation und Ethik in Deutschland und England.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. X, 390 S. Lw. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-153085-2.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Mit dem Band Sister Reformations/Schwesterreformationen von 2010 wurden die Ergebnisse einer Tagung vorgestellt, die aus Anlass des 500. Jahrestags des Elizabethan Settlement 2009 in Berlin stattfand (vgl. meine Besprechung in ThLZ 137 [2012]). Der Fokus dieser Untersuchung lag auf dem noch näher zu beschreibenden Verhältnis der Reformation bzw. der Reformationen in England und im Alten Reich (vgl. V). Nun, nach fruchtbarer Verfestigung der englisch-deutschen Kooperation, folgt die thematische Konzentration. Vornehmlich erfreulich ist das Erscheinen dieses Bandes, denn es zeigt den Erfolg dieser Wissenschaftskooperation sowie den Ertragsreichtum der Untersuchung englischer und kontinentaler Reformationsbeziehungen gerade in einer internationalen Zusammenarbeit.
Dass die Wahl für die Fortsetzung nun auf den Titel »Reformation und Ethik« fiel, mag beliebig erscheinen, doch können die versammelten Beiträge zumeist diese Entscheidung als fruchtbar erweisen. So fächern die Beiträge trotz der thematischen Vorgabe ein breites Panorama auf, das sowohl theoretische ethische Überlegungen der Reformation als auch praktische Formen ethischen Verhaltens untersucht; nicht in jedem Beitrag ist die englisch-kontinentale Beziehungsdimension tragend. Eine Binnengliederung hätte die Rezeption der Querbezüge der Beiträge erleichtert, zur Erschließung ist ein Personenregister (ohne Lebensdaten) beigegeben. Wie schon im Vorgängerband werden die deutschen Beiträge zusätzlich ins Englische übersetzt.
Dem ersten Beitrag eignet so etwas wie Überblickscharakter: Peter Marshall widmet sich unter dem Titel »Ethics and Identity in the English and German Reformations« der Frage nach dem richtigen Verhalten als Christ, das in der Reformation um die konfessionelle Komponente bereichert wurde. Dabei ergeben sich die als identitätsstiftend geltenden ethischen Normen nicht zwingend aus dem konfessionellen Unterbau, sondern sind oft auch zufällig gewählt.
Ebenfalls konkret und anschaulich kann Andreas Stegmann – angelehnt an seine Habilitationsschrift – die ethischen Unterweisungen in England und Deutschland vorstellen. Stegmann identifiziert z. B. zwei Typen, das lutherische Glaubensethos und das oberdeutsch-schweizerische Liebesethos, das er auch in der englischen Reformation ausmacht und das sich stärker in Gesetzesgehorsam ausformt.
Obgleich auf Luther konzentriert, vermag Berndt Hamm in seinem Beitrag »Heilsgabe, Glaube und Handeln […]« Grundsätzliches für die Reformationsgeschichtsforschung zu skizzieren. Er stellt das »Neue, Andersartige, ja Revolutionäre der Reformation« (65) heraus, das das hergebrachte Heilskoordinatensystem vom Heilsweg und von Gabe und Gegengabe durch die Betonung der puren Heilsgabe neu aufsetzte. Dieses später aufgeweichte »Grundmodell der kontinental-reformatorischen Verhältnisbestimmung von Heilsgabe, Glaube und Handeln« habe Luther neu erfunden (74).
Hans Hillerbrand stellt in seinem Beitrag »The Ethics of the Radical Reformation« nach ausführlichen Gedanken über den Begriff »radikal« einige Grundzüge vor allem der täuferischen Ethik anhand unterschiedlicher Quellengattungen vor. Wenig überraschend ist die enorme Breite ethischer Vorstellungen bei dieser – bekanntlich disparaten – Gruppierung, erstaunlich das weitgehende Fehlen tiefergehender ethischer Diskussionen.
»Welchen Einfluss hatte die kirchliche Disziplinargewalt auf den tatsächlichen Lebenswandel der Menschen vor und nach der Reformation?« (130), fragt Matthias A. Deuschle in seinem Beitrag zur kirchlichen Gerichtsbarkeit im Südwesten Deutschlands. Obgleich der tatsächliche Einfluss sich aus den Quellen nicht erheben lässt, zeigt Deuschle an konkreten Beispielen, wie gewichtige Teile der Zucht bereits vor der Reformation von der weltlichen Obrigkeit übernommen wurden, dieser Trend setzt sich weiter fort (vgl. 154). Ob freilich diese Ergebnisse sich ausdehnen lassen über das spezifische Gefüge der untersuchten Territorien, kann gefragt werden.
Der Gegenstandsbereich des Beitrags Alec Ryries ist weit: »Mission and Empire«. Er stellt sehr verschiedene ethische Fragestellungen vor, die sich aus den im frühen Protestantismus gewichtigen Phänomenen Exil und Mission ergeben. So zeichnet er die Gründe für die erfolglose Missionstätigkeit auf Taiwan nach (angesichts des Polytheismus) und weist auf die theologische Argumentation zur Begründung des Ausbleibens der Mission durch Siedler in Neuengland hin, die z. B. den Taufbefehl auf die Apostel beschränkten und Mission in die Endzeit verlegten.
Ashley Null zeigt in seinem lesenswerten Beitrag am Beispiel der Äußerungen Luthers und Cranmers zur Ehe die unterschiedene Zusammengehörigkeit der Sister Reformations auf, die trotz oft unterschiedlicher Anmarschwege rechtfertigungstheologische Grundüberzeugungen teilen (207): Während Luther von der Rechtfertigung ausgehend die Ehe als »vehicle for social transformation« (220) begreifen kann, nimmt Cranmer den entgegengesetzten Weg. Hier werden an einem konkreten Beispiel die ethischen Konsequenzen reformatorischer Theologie deutlich.
Der politischen Ethik widmet sich Arne Dembek und untersucht die unterschiedlichen Interpretationen der »Zwei-Regimenten-Lehre« Luthers vor allem durch William Tyndale und (kurz) Robert Barnes. Dass Tyndal sich immer mehr von der Gehorsamsforderung hin zur Zeugnispflicht des Christen für das Wort Gottes (244) entwickelt, Barnes die Zwei-Regimenten-Lehre später fallen lässt, um den König nicht zu provozieren (248 f.), zeigt, wie die religionspolitische Rolle des Königs die theologische Rezeption überlagert.
David Trim (im Titel: D. J. B. [271]) widmet sich detailliert der Frage nach den Auswirkungen der unterschiedlichen ethischen Konzeptionen der Reformation auf die Kriegsführung, die insgesamt nicht einschneidend waren. Zwar diente die »Religion« häufig als Kriegsgrund, eine Sakralisierung des Krieges ist aber nicht festzustellen (jus ad bellum). Auch die teilweise enorme Brutalität der Religionskriege in Europa ist nicht auf eine grundsätzliche Änderung des jus in bello zurückzuführen.
David Scott Gehring erforscht die diplomatischen Beziehungen zwischen England und den deutschen Fürsten und kann so interessante Verbindungslinien und religionspolitische Erwägungen aufzeigen. Er zeichnet die Hindernisse dieser Beziehungen nach, die immer wieder durch ungünstige Umstände ein engeres Bündnis verhinderten (322). Beide verstanden sich als Teile des Corpus Protestantium, so dass die Bündnisverhandlungen nicht nur politisch motiviert erscheinen, wenngleich diese Schwebe für die katholische Seite eine stete Bedrohung darstellte. Welche Auswirkungen hätte eine erfolgreiche Bündnisverhandlung gehabt?
Thomas Kaufmann setzt den gleichsam klar positionierten wie materialreichen Schlusspunkt mit seiner Darstellung »Wirtschafts- und sozialethische[r] Vorstellungen und Praktiken in der Frühzeit der Reformation«, die bislang in der kirchengeschichtlichen Forschung oft stiefmütterlich behandelt wurden. Kaufmann kann detailliert nachzeichnen, wie sich wirtschafts- und sozialethische Vorstellungen der Reformatoren (vor allem Luthers) entwickelten und die Reformation, geleitet von der »offenbar elektrisierenden Leitidee der einen Gemeinde Christi« (355) früh in der Armuts- und Bettelproblematik erfolgreich war (351). Er schärft und verschiebt den Blick auf die frühe Reformation, wenn er schließt: Somit stehe »nicht die Rechtfertigungs lehre, sondern ihre Konkretion in Gestalt der Frage nach der guten und gerechten Ordnung der Kirche, mithin die Ethik, am Anfang der Reformation« (355).
Damit schließt sich der Kreis zur eingangs gestellten Frage nach der Berechtigung der Themenwahl dieses Bandes. Dass sich nicht alle Beiträge explizit mit der Schwesternschaft der beiden Reformationen beschäftigen, sondern darüber hinaus oftmals weiterführende Anregungen für die Reformationsforschung geben, ist da zu verschmerzen. Weitere Ergebnisse dieser Kooperation sind hoffentlich zu erwarten.