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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1234–1235

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Decot, Rolf

Titel/Untertitel:

Geschichte der Reformation in Deutschland.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a: Verlag Herder 2015. 288 S. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-451-31190-1.

Rezensent:

Christian Bogislav Burandt

»Die Reformation gilt zu Recht als eines der wichtigsten Ereignisse der deutschen, der europäischen, ja der Weltgeschichte.« Mit diesem Satz beginnt Rolf Decot, emeritierter Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz, seine Darstellung der Reformation. Das in zehn Kapitel gegliederte Buch basiert auf seinem 2005 erschienenen Taschenbuch »Kleine Geschichte der Reformation in Deutschland«, ist aber gegenüber der Vorlage erheblich erweitert und mit Belegen und Illustrationen versehen. Die Reformation soll »für einen interessierten breiteren Leserkreis« dargestellt werden.
Das 1., sehr farbige Kapitel hält fest, dass als auslösende Faktoren »die theologischen Fragen der Zeit im Vordergrund« standen. Martin Luther sei »zu Recht mit den Anfängen der Reformation« verbunden worden. Unterscheiden müsse man aber zwischen Lu­thers theologischen Anliegen und der praktischen Durchsetzung der Reformation. Der Begriff der Reformation bzw. das lateinische Wort reformatio wird in seiner Geschichte beschrieben, die Reformansätze in der Kirche des Spätmittelalters skizziert. Neben dem Papsttum und dem gemeinsamen Kirchenrecht habe es Regionalkirchen gegeben, die »als dem Haupt gleichwertige und selbstständige und aus eigenem Recht bestehende Gebilde« anzusehen seien. Auch im weltlichen Bereich gab es die Zersplitterung von Macht und Amtsgewalt, die Konkurrenz zwischen Zentralgewalt (Kaiser) und Territorialgewalt (den Reichsständen), die 1648 endgültig mit dem Sieg der Reichsstände über die Zentralgewalt zu Ende gehen sollte. Wichtig war die Reichsreform von 1495. Frömmigkeit und kirchliches Leben werden facettenreich geschildert im Blick auf die Bibelübersetzungen vor der Reformation, unter Hinweis auf die Zunahme von (Mess-)Stiftungen und mit Hilfe von Begriffen wie »Hostienfrömmigkeit« und »Schmerzensmannfrömmigkeit«. Freilich: »Die Frömmigkeit der Menschen im Spätmittelalter und zu Beginn der Reformation ist uns in bedeutenden Teilen weitgehend fremd.« Die spätmittelalterliche Theologie wird mit Blick auf Luther behandelt, der Humanismus kommt zur Sprache genauso wie das Wirken des Erasmus von Rotterdam, der ungewollt »aufgrund seiner Haltung zum Vorläufer und Wegbereiter der Reformation geworden« sei. Die Reformbedürftigkeit der Kirche auf allen Ebenen wird dem Leser klar vor Augen geführt. Dazu urteilt D.: »Ein Papst wie Leo X. war nicht in der Lage, einer religiösen Urkraft wie Martin Luther mit religiösen und geistlichen Mitteln entgegenzutreten.«
Das 2. Kapitel schildert Luthers Werdegang bis zur Übernahme der Bibelprofessur in Wittenberg. Dabei wird auf sein Studium der Heiligen Schrift eingegangen und auch der Doktoreid erwähnt, den Luther 1512 abzulegen hatte. Auf ihn hat sich Luther »später des Öfteren« berufen.
Das 3. Kapitel schildert Luthers theologische Entwicklung und behandelt den Zeitraum bis zur Verhängung der Reichsacht 1521. D. meint, dass die Neubewertung der Gerechtigkeit Gottes für Luther Kristallisationspunkt der eigenen theologischen Anschauung geworden sei, dies aber nicht als Augenblickserfahrung, sondern als lebenslanger Prozess. Vor Beginn der Auseinandersetzungen 1517 habe Luther »seine Mitte bereits gefunden«, auch wenn wesentliche Elemente seiner späteren Theologie, der Promissio-Gedanke oder die Konzentration auf das Wort erst ab 1518/19 deutlich vorlägen. Die 95 Thesen gelten »zu Recht als die Geburtsstunde der Reformation«, auch wenn der Thesenanschlag umstritten sei. Insbesondere auf das Verhör vor Cajetan in Augsburg 1518 wird gründlich eingegangen.
Kapitel 4 stellt Luthers Kreuzestheologie anhand der Heidel-berger Disputation von 1518 dar, erwähnt seine seelsorgerlichen Schriften und führt als Programmschriften von 1520 vor: An den christlichen Adel und Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. D. beschäftigt sich ferner mit Luthers Ekklesiologie anhand der Schrift Vom Papsttum zu Rom.
Das 5. Kapitel behandelt die Reformationsereignisse bis einschließlich des Jahres 1525 (Bauernkrieg und Luthers Eheschließung) und hält als Beobachtung fest, dass nacheinander die ersten Träger der Reformation, der kleine Adel, die Bauern und der sogenannte ›gemeine Mann‹ ausfielen und auch die Städte ihre Bedeutung als treibende Kraft verloren. Als Gewinner übernahmen dagegen die Landesfürsten ab 1526 »eine Führungsrolle in der Reformation«.
Kapitel 6 mit der Überschrift »Vielfalt von Reformatoren« geht auf Karlstadt, den linken Flügel der Reformation, Zwingli und Calvin ein. D. urteilt, dass aufgrund des Heidelberger Katechismus’ »sich in Deutschland eine vom westeuropäischen unterschie­dene, dem Luthertum angenäherte Form des Calvinismus« ergeben habe.
Kapitel 7 befasst sich mit der Religionsfrage auf den Reichstagen und bietet einen Exkurs zum evangelischen Landeskirchentum.
Kapitel 8 schildert die Geschichte der religiösen Auseinandersetzungen im Reich bis zum Augsburger Religionsfrieden mit Ausblicken auf die Zukunft. »Die Entscheidungen der Reichstage im 16. Jh. ermöglichten den Zusammenhalt und das Funktionieren des Reiches trotz konfessioneller Verschiedenheit, weil hierin das gemeinsame Interesse der Stände lag.« Dies trug wesentlich zur Entwicklung eines neuzeitlichen säkularen Staates bei.
Kapitel 9 behandelt im Wesentlichen die Reformen des Trienter Konzils. D. beobachtet, dass in Spanien »dank einer starken Zentralmacht« die Reform sich »innerhalb der Kirche« vollzog, während sie in Deutschland »wegen des Widerstandes vieler Partialkräfte« sich nur gegen die Kirche durchsetzte. Auf dem Trienter Konzil hätten spanische Theologen eine führende Rolle gespielt, gerade aus Spanien seien viele bedeutende Heilige im 16. und 17. Jh. gekommen.
Das 10. Kapitel skizziert die konfessionelle Entwicklung im Reich mit ihren Problemen bis 1648. Am Schluss erwägt D., dass als Beitrag zur Einheit einer künftigen Welt im europäischen Einigungsprozess sich für die christlichen Kirchen die Chance böte, ohne Aufgabe der je eigenen Identität »sich als die zusammengehörige eine Kirche Christi zu verstehen« und nach außen hin darzustellen. Zeittafel, Bibliographie und Register beschließen das auch äußerlich sehr ansprechend gemachte Werk.
Als Kritik könnte man anmerken: das Fehlen der »evangelischen Freiheit« bzw. der Freiheitsschrift Luthers, die marginale Erwähnung der Flugschriften und die Nichtberücksichtigung der neueren Literatur. Die Aufeinanderfolge der Unterkapitel ist nicht im­mer nachvollziehbar und hin und wieder wird der breitere Leserkreis überfordert (z. B.: »Das Christusgeschehen vollzieht sich tropologisch verstanden im Rechtfertigungsgeschehen«). Dies än­dert aber nichts an dem positiven Gesamteindruck:
D. hat – aufbauend auf seiner eigenen fruchtbaren Forschungsarbeit – trotz der begrenzten Seitenzahl ein wirklich erhellendes Buch vorgelegt, aus dem der Interessierte viel lernen kann. Gegen jede kleinteilige, protestantische Selbstgenügsamkeit hat D. mit guten Gründen die katholische Reform berücksichtigt und den Horizont bis zum Westfälischen Frieden gespannt. Seine Darstellung der Thematik wird die Ökumene befruchten. Von daher sind dem Buch viele Leser zu wünschen!