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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1232–1233

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bräuer, Siegfried, u. Günter Vogler

Titel/Untertitel:

Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. 542 S. m. 75 Abb. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-579-08229-5.

Rezensent:

Stefan Michel

Eine Biographie stellt wohl die Krone aller wissenschaftlichen Ab­handlungen dar. Um das Leben eines anderen Menschen darzustellen, bedarf es aber nicht nur des Wissens um historische Fakten über den ausgewählten Protagonisten, sondern auch eines Fokus, auf den hin man die jeweilige Biographie anlegt. Eine reine Auflis­tung der Fakten und Lebensstationen kann schnell langweilig werden. Die beiden Altmeister der Müntzer-Forschung Siegfried Bräuer und Günter Vogler haben sich dieser Aufgabe erfolgreich gestellt und für die von ihnen vorgelegte Biographie den Theologen Thomas Müntzer ausgesucht.
Bereits vom Umfang her erinnert das Buch an die Darstellung von Walter Elliger, die 1975 in Göttingen erschien und bereits 1976 eine dritte Auflage erfuhr. Elliger hatte den Fokus seiner Biographie auf »Leben und Werk« Müntzers gelegt. In strenger Chronologie berichtete er auf insgesamt 842 Seiten über Müntzer, indem er in Ablehnung marxistischer Müntzer-Deutungen historisch-kritisch alle bekannten Quellen auswerten wollte. Allerdings ha­ben die beiden Autoren den Fehler Elligers, eine antimarxistische Müntzer-Biographie schreiben zu wollen, nicht wiederholt.
Die Schwierigkeit einer biographischen Darstellung des Lebens von Thomas Müntzer besteht darin, das äußerst rare und spröde Material zu deuten. Während aus den Werken der 1520er Jahre auf Müntzers theologische Position geschlossen werden kann, bleibt seine Biographie jedoch vielfach im Dunkeln. Manche Lücken ließen sich nur durch neue Quellenfunde füllen, die allerdings aufgrund der intensiven Recherchen der letzten Jahrzehnte kaum mehr zu erwarten sind.
Auf die Abfassung einer Müntzer-Biographie wirkt zudem das Vorhandensein einer Reihe anregender, im Ansatz äußerst unterschiedlicher Darstellungen vielleicht wenig einladend. Zu erinnern ist an die Bücher von Eike Wolgast (1988), Max Steinmetz (1988), Manfred Bensing (4. Auflage 1989), Günter Vogler (1989), Ulrich Bubenheimer (1989) oder Hans-Jürgen Goertz (1989; 2015).
Gleichwohl bringen die beiden Autoren durch ihre unterschiedlichen Zugänge als Historiker und Theologe die besten Voraussetzungen mit, um sich dem schwierigen Unternehmen zu stellen. Entsprechend darf man von dieser Biographie weniger die Mitteilung neuer Fakten zum Lebensweg Müntzers erwarten. Erstaunlich ist vielmehr der Fokus der Darstellung: Die beiden Autoren berichten über einen Theologen, der eine neue Ordnung in der Welt aufrichten wollte, die einerseits der Ordnung Gottes nach der Interpretation Müntzers deutlicher entsprechen und andererseits die bestehenden Ordnungen außer Kraft setzen sollte. Dieser Gedanke ist für die Darstellung äußerst produktiv, weil so Müntzer weder als »Schwärmer« in der Deutung der Wittenberger Reformatoren und deren Nachfolger noch als Held der »Frühbürgerlichen Revolution« in der Deutung marxistischer Geschichtsschreibung erscheint. Vielmehr gelingt es Bräuer und Vogler, ein Müntzerbild zu entwerfen, das auf der Grundlage intensivster Quellenkenntnis der Motivation ihres Protagonisten möglichst nahe kommt, ohne ihn als Aufrührer oder Revolutionär zu stigmatisieren. Müntzer ist in ihrer Sicht ein Reformator unter anderen in der Aufbruchszeit der Reformation. Dieser Ansatz ist fruchtbar, weil er nicht nur Müntzer in ein neues Licht stellt, sondern auch die Möglichkeit zu neuen Interpretationen der Reaktionen seiner Gegner – zu denken wäre beispielsweise unmittelbar nach 1525 an Luther oder Kurfürst Johann von Sachsen – öffnet.
Eine kurze Einleitung unter dem Titel »neu Ordnung machen in der Welt« – ein Zitat, das auf Luther zurückgeht – eröffnet den Band und legt den leitenden Gedanken der Biographie offen (11–16). Vor allem sollen die Quellen herangezogen werden. Die negative Müntzer-Deutung, die seit dem 16. Jh. anzutreffen ist, soll fallengelassen werden, indem Müntzer nicht erneut an Luther gemessen wird.
Die Biographie ist in zwölf Abschnitte gegliedert, in denen Müntzers Weg von seiner Geburt in Stolberg am Harz im Jahr 1489 oder 1490 bis zu seiner Hinrichtung am 27. Mai 1525 bei Mühlhausen geschildert wird. Auf die Darstellung von Kindheit und Ausbildung (17–48) folgen Müntzers Zeit »im Dienst der Kirche« (49–91), seine Tätigkeit als »Prediger in Wittenberg« (92–124), »Die Böhmenmission« (125–155), seine »Suche nach einem Wirkungsort« (156–180) und seine »Arbeit für eine Gemeinde des reinen Weizens« in Allstedt (181–206). Der siebente Abschnitt stellt »Müntzers Verteidigung von Lehre und Wirken« dar (207–249), indem unter anderem seine »Protestation und Erbietung«, »Von dem gedichteten Glauben« und die »Fürstenpredigt« vorgestellt werden. Darauf folgen die Darstellungen des Aufstands in Mühlhausen (250–277), der Reise nach Nürnberg und nach Oberdeutschland (278–319), des Bauernkriegs – diese Bezeichnung wird in der Darstellung kaum verwendet – (320–347) sowie von Müntzers Ende (348–384). Der zwölfte Abschnitt versucht unter der Überschrift »Darumb hat mich Goth selbern gemit in seyn ernde« die Darstellung von Müntzer als einer »Alternative im reformatorischen Prozess« (385–400). Die Abschnitte 1, 2 sowie 8–12 wurden von Günter Vogler verfasst, während Siegfried Bräuer die Abschnitte 3–7 schrieb. Beide Autoren haben neben den Quellen zahlreiche Literatur verwendet, wodurch das Buch fast zu einem Müntzer-Kompendium wird. Der Band wird von einer Zeittafel (401–405), einer Karte der Stationen Thomas Müntzers (406), den umfangreichen Endnoten (409–479), einem Quellen- und Literaturverzeichnis (487–526) sowie einem Personen- und Ortsregister (527–542) beschlossen.
Bedauerlich ist, dass sich der Verlag nicht um einen besseren Satz der Bilder bemüht hat. Manche Abbildungen besitzen Briefmarkenformat, so dass auf ihnen fast nichts zu erkennen ist. Ebenso ist die Qualität der Vorlagen zum Teil mäßig (vgl. 280, Abb. 42). Doch dies hat nichts mit der Leistung der beiden Autoren zu tun! Siegfried Bräuer und Günter Vogler ist eine gut lesbare und lesenswerte Müntzer-Biographie gelungen. Möge sie nicht nur viele Leserinnen und Leser finden, sondern auch die Reformationsforschung anregen, die gewohnten Bahnen einmal zu verlassen.