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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1230–1232

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kohnle, Armin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

St. Nikolai zu Leipzig. 850 Jahre Kirche in der Stadt. Hrsg. im Auftrag d. Kirchengemeinde St. Nikolai.

Verlag:

Petersberg: Michael Imhof Verlag 2015. 352 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-86568-857-6.

Rezensent:

Steffen Raßloff

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bünz, Enno, u. Armin Kohnle[Hrsg.]: Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013. 543 S. m. Abb. = Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig, 6. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-86583-813-1.


Die Stadt Leipzig ist neben der glanzvollen Residenz Dresden das bürgerlich geprägte urbane Zentrum Sachsens. An der Schwelle zur Neuzeit beginnend rückte die prosperierende Handelsstadt zu den großen deutschen Metropolen auf. Dies war begleitet von einem Aufschwung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens, das wiederum eng mit der evangelischen Kirche verbunden war. Hiervon zeugen die markanten Sakralbauten, von denen zwei internationale Berühmtheit erlangt haben: St. Thomas, untrennbar mit dem Wirken des Kantors Johann Sebastian Bach von 1723 bis 1750 verbunden, und St. Nikolai, von wo 1989 die Friedliche Revolution in der DDR ausging. Die zu besprechenden Publikationen beleuchten das religiöse Leben Leipzigs über diese beiden »Leuchttürme« hinaus in seiner eng in die Stadtgeschichte verwobenen Vielschichtigkeit vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Das gilt besonders für den von Enno Bünz und Armin Kohnle herausgegebenen Tagungsband; aber auch der von Armin Kohnle bearbeitete Band zur Nikolaikirche deckt 850 Jahre »Kirche in der Stadt« ab.
Die Leipziger Nikolaikirche ist nicht zuletzt dank des verfilmten Romans von Erich Loest im kollektiven Gedächtnis fest mit der Friedlichen Revolution 1989 verbunden. Die wegweisende »Montagsdemo« vom 9. Oktober 1989 mit 70.000 friedlichen Demonstranten nahm nicht zufällig ihren Ausgangspunkt vom Friedensgebet in der Nikolaikirche mit Pfarrer Christian Führer. Der opulent bebilderte Band, herausgegeben 2015 aus Anlass ihres 850-jährigen Jubiläums, macht freilich deutlich, welch wichtige Rolle die Kirche über Jahrhunderte in der Leipziger Geschichte gespielt hat. In drei Abschnitten werden erstmals umfassend die historische Entwicklung der Kirche, ihrer Pfarrer und Gemeinde vom Mittelalter über die Reformation bis zur Gegenwart ebenso beleuchtet wie die zahlreichen baulichen Veränderungen sowie das geistliche und musikalische Leben der Wirkungsstätte Bachs als Organist.
Hierfür konnten ausgewiesene Experten gewonnen werden. Die »Geschichte der Nikolaikirche in ihrem städtischen Umfeld« erläutern Enno Bünz, Armin Kohnle, Markus Hein, Klaus Fitschen und Hermann Geyer, für die »Bau- und Kunstgeschichte« zeichnen verantwortlich Heinrich Magirius, Gerhart Pasch, Wolfgang Hocquél, Frank Schmidt und Richard Hüttel, für das »Geistliche und musikalische Leben« Michael Maul, Felix Friedrich, Friedemann Szymanowski, Thomas Fuchs und Bernhard Stief. Ein Anhang listet Pfarrer, Prediger, Superintendenten, Organisten und Kantoren auf und schließt mit einer Zeittafel. Mit diesem gelungenen Band haben Herausgeber Armin Kohnle, die Autoren und die Kirchgemeinde St. Nikolai mit Pfarrer Bernhard Stief einen bleibenden Beitrag für das große Jubiläum geleistet. Ihre Zielstellung, dass die neue »Nikolaigeschichte sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen genügen als auch ein breiteres interessiertes Publikum ansprechen sollte« (14), darf als vollauf erreicht gelten.
Keineswegs nur auf ein wissenschaftliches Fachpublikum zielt auch der Band zum »religiösen Leipzig«, der auf den Tag der Stadtgeschichte 2012 zurückgeht und um weitere Beiträge angereichert wurde. Nicht weniger als 25 kenntnisreiche Aufsätze bieten hier einen umfassenden Überblick von der Mission der Slawen im 10. Jh. über das Spätmittelalter und die Reformationszeit bis hin zur Kirche in der modernen Großstadt von heute. Im Mittelpunkt stehen die großen christlichen Konfessionen, die durch ihre Kirchen, Gemeinden und Institutionen die Stadtgeschichte wesentlich mitformten. Dabei kommt natürlich auch die ambivalente Entwicklung seit dem 19. Jh. in den Blick: Zwar entstanden mit dem explosionsartigen Wachstum der Stadt so viele Kirchenbauten wie nie zuvor, zugleich aber setzte eine Pluralisierung der Bekenntnisse, eine breite Kritik und atheistische Ablehnung von Kirche ein, die schließlich in eine mehrheitlich säkularisierte Gegenwart mündete.
Neben der Rolle von vorreformatischem Christentum, Protes­tantismus, Katholizismus und Freidenkern fallen Schlaglichter auf jüdisches Leben, Reformierte und Orthodoxe. Ins Blickfeld rücken weiter die Universitätskirche St. Pauli, Robert Blum und die deutsch-katholische Bewegung, die Innere Mission, Bestattungskultur im Wandel, Diktaturerfahrungen und die Friedliche Re-volution 1989. Aus alldem erschließt sich in diesem reich mit Schwarz-Weiß-Abbildungen versehenen Band ein breites Spektrum des »religiösen Leipzigs«, das so noch nie zusammengefasst wurde. Zugleich wird deutlich, welch wichtigen Beitrag primär religionsgeschichtliche Forschungen für die allgemeine Historiographie weit über das Mittelalter und die Reformation hinaus zu leisten vermögen. In diesem Sinne haben Stadt- und Regionalgeschichte mit beiden Publikationen eine echte Bereicherung von exemplarischem Wert erfahren.