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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1224–1226

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vahrenhorst, Martin

Titel/Untertitel:

Der erste Brief des Petrus.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 226 S. = Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 19. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-17-017959-2.

Rezensent:

Wolfgang Grünstäudl

Zum 1Petr, der sich zurzeit durchaus eines regen Forschungsinteresses erfreut, liegt mit dem zu besprechenden Band nun auch in der Reihe »Theologischer Kommentar zum Neuen Testament« eine aktuelle und – das sei vorweggenommen: überzeugende – Auslegung vor.
Jede Kommentierung zwingt, wenn sie denn lesbar bleiben soll, zur Beschränkung. Ganz besonders gilt das dort, wo nicht nur ein fachspezifisches Publikum angezielt ist, sondern exegetische Einsichten für das Gesamt der theologischen Disziplinen erschlossen werden sollen. Martin Vahrenhorst zeigt durchweg ein sicheres, im positiven Sinne pragmatisches Gespür für die zu setzenden Schwerpunkte, was bereits in der Einleitung deutlich wird: Bei der knappen Erörterung der pseudepigraphen Gestaltung des 1Petr (9–16) verliert V. sich nicht im Pro und Kontra, sondern macht gezielt auf die entscheidenden Fragen nach Plausibilität und Funktion der Verfasserfiktion aufmerksam. Zu Recht ist hingegen die Analyse der vorauszusetzenden Adressatenschaft ausführlich gestaltet (16–36, s. u.), und bei der Besprechung der intertextuellen Beziehungen des 1Petr versäumt es V. nicht, den aktuellen Vorschlag von Marlis Gielen (Der Polykarpbrief und der 1. Petrusbrief. Versuch einer Neubestimmung ihres literarischen Verhältnisses, in: Eisele, W./ Schäfer, C./Weidemann, H.-U. [Hrsg.], Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. FS Michael Theobald [HBS 74], Freiburg/ Basel/ Wien 2013, 416–444), 1Petr sei von Polykarps Brief an die Philipper abhängig und nicht, wie seit Eusebius (h. e. 4,14,9) vermutet, umgekehrt, kritisch zu diskutieren (47–50). 1Petr 5,13 wird in Fortführung des Vorschlags von Karl Heussi nicht als Indiz für eine römische Herkunft des Schreibens gewertet, sondern als stimmige Akzentuierung der ab 1Petr 1,1 als Gestaltungsmittel eingesetzten Diaspora-Situation (51–56).
Insgesamt sieht V. im 1. Petrusbrief ein zwischen 80 und 120 n. Chr. an einem nicht (mehr) zu bestimmenden Ort verfasstes pseudepigraphes Schreiben, das seiner Leserschaft vornehmlich nichtjüdischer Her­kunft (vgl. 1Petr 1,14.18; 2,10; 4,3) unter intensivem Rückgriff auf jüdische Schriften und Schriftauslegungstraditionen Hoffnung in einer durch verbale, nicht aber physische (bzw. staatliche) Gewalt gekennzeichneten Bedrängnissituation vermitteln möchte.
Der Einzelauslegung wird jeweils abschnittsweise eine eigene deutsche Übersetzung vorangestellt; da griechische Begriffe im Fließtext transkribiert geboten werden (Zitate hätten entsprechend modifiziert werden können), bleibt die Auslegung auch für Leserinnen und Leser ohne ausgeprägte Griechischkenntnisse, et­wa Studierende der ersten Semester, stets nachvollziehbar, wobei gleichzeitig eine hohe Aufmerksamkeit für die sprachliche Gestalt des 1Petr, besonders auf dem Hintergrund der LXX, ins Auge sticht. Ähnlich auffällig ist die stete Auseinandersetzung mit Jean Calvin, dessen Kommentierung des 1Petr die Auslegung durchweg begleitet. V. macht dabei auch deutlich, wo exegetische Kompetenz und theologisches Anliegen des Reformators miteinander in Konflikt geraten (z. B. 159, Anm. 473). Bei der Auseinandersetzung mit den cruces interpretum des Textes (z. B. 1Petr 3,19; 4,5 f.) gelingt es V., unterschiedliche Interpretationen in ihren Stärken und Problemen klar darzustellen und dort, wo es angezeigt ist, als gleichwertige Lektüreoptionen nebeneinander stehen zu lassen (z. B. 158.162), ohne dabei in interpretatorische Beliebigkeit abzugleiten.
In besonderer Weise lädt eine Auslegung des 1Petr zu einem Blick auf die erklärten Schwerpunkte der gesamten Kommentarreihe – Berücksichtigung des jüdisch-theologischen Gesprächs, des feministisch-theologischen Diskurses sowie sozialgeschichtlicher Fragestellungen – ein. Die beiden letzten Bereiche werden vor al­lem im Zusammenhang der paränetischen Abschnitte 1Petr 2,18–25 (Sklaven) und 3,1–7 (Frauen und Männer) erörtert. Wenngleich hier manche paraphrasierende Formulierung nicht ganz glücklich ist (z. B. 140: »Frauen sind Mitmenschen, denen Ehre gebührt.«) und hinter der Paränese in 1Petr 3,1–7 wohl zu sehr eine auf der Linie von Gal 3,28 liegende »Gleichrangigkeit von Männern und Frauen im Raum der Gemeinde« (141) ausgemacht wird, verdeutlicht V. überzeugend, dass 1Petr hinsichtlich dieser brisanten Themen keine platte Überhöhung des Status quo vertritt. Anregend wäre gerade hier noch eine stärkere Identifizierung hermeneutischer Verbindungslinien zu gegenwärtigen theologischen Diskursen gewesen.
Dem Verhältnis »zum nicht an Jesus glaubenden Judentum« (30) wird ein eigener Exkurs gewidmet (30–36), der vor allem der Frage nachgeht, wie die Spannung zwischen der Verwendung von Israel-Terminologie zur Beschreibung von Wesen und Status der im Blick auf ihre Herkunft nicht-jüdischen Adressatenschaft (32: »konsequente ›Israelitisierung‹«) einerseits und der Absenz einer expliziten Auseinandersetzung mit Israel (im Gegenüber zu einem sich entwickelnden Christentum; vgl. auch 1Petr 4,16) andererseits zu erklären ist. Im kritischen Anschluss an Überlegungen von Klaus Berger und vor allem Gudrun Guttenberger erwägt V. die Möglichkeit, »dass der 1Petr ein ›Christentum‹ vor Augen hat, das sich als durch und durch jüdisch beschreiben lässt, ohne dass sich daraus eine Konkurrenz zu anderen jüdischen Gemeinden ergeben hätte« (36), wobei damit gerechnet wird, dass im Adressatengebiet des 1Petr »die jüdische Selbstdefinition relativ unscharf war oder […] es dort kaum jüdische Präsenz« (36) gab. Wenngleich hier (naturgemäß) manches spekulativ bleiben muss, wird damit deutlich, mit welch vielfältigen Möglichkeiten »jüdischer« und »christlicher« Identitätskonstruktion am Ende des 1. oder zu Beginn des 2. Jh.s zu rechnen ist. Zudem lässt sich 1Petr in dieser Perspektive nicht im Sinne einer Substitutionsekklesiologie lesen oder gar applizieren.
Schließlich gewinnt 1Petr, der seine Adressatinnen und Adressaten als »auserwählte Fremde« (1Petr 1,1) anspricht und wie kein anderer neutestamentlicher Text vom Motiv des Fremdseins Ge­brauch macht, auf dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Ereignisse eine theologische Brisanz, die V. bei der Übernahme der Kommentierung vermutlich kaum voraussehen konnte. Auch deshalb ist dieser gelungenen Erschließung des 1Petr eine breite und interessierte Leserschaft zu wünschen.