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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1209–1212

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hartenstein, Friedhelm, u. Konrad Schmid[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Pentateuchdebatte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 218 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 40. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03361-4.

Rezensent:

Christian Frevel

Die aus der Vielfalt der Positionen resultierende Unübersichtlichkeit überblendet gerade für Außenstehende die Relevanz der Diskurse in der Pentateuchforschung in zunehmendem Maße. Die tektonischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte werden als Quisquilien einer kleinen Gruppe von Spezialisten wahrgenommen, die sich in Halb- und Viertelversen der Rekonstruktion von vermeintlich ursprünglichen Erzählungen verlieren, ohne noch über die Relevanz dieser Forschung für die Theologie Rechenschaft zu geben. Der Eindruck ist nicht falsch, lässt aber außer Acht, dass das Verständnis der dichten Traditionsliteratur nicht nur durch den diachron-differenzierenden Blick der historisch-kritischen Exegese gefördert wird, sondern dieser methodische Zugang nach wie vor für ein Verstehen unverzichtbar ist, weil er die Literatur als Teil eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses und gewachsener Interpretationen versteht. In dem mal mehr, mal weniger lauten Vorwurf, die Pentateuchforschung würde sich in Debatten um Quisquilien verlieren, ist zudem verkannt, dass Wissenschaft von dem produktiven Streit um Hypothesen lebt und die Pentateuchforschung in ihren Debatten keinesfalls auf der Stelle tritt. Nimmt man den (durchaus auch falschen) Eindruck einer geradezu monolithischen Geltung des Vierquellenmodells der neueren Graf-Kuenen-Wellhausen Urkundenhypothese (JEDP) als Ausgangspunkt, befindet sich die gegenwärtige Pentateuchforschung seit etwa 30 Jahren in einem erheblichen Umbruch, der vieles Gewohnte auf den Kopf stellt und weichenstellende Entscheidungen der Pentateuchforschung des 19. Jh.s revidiert. War der älteren Forschung nämlich selbstverständlich, dass das nichtpriesterliche Material vorpriesterlich zu datieren war, so ist diese Selbstverständlichkeit gewichen, indem die nichtpriesterlichen Textteile zunehmend ganz oder teilweise nachpriesterlich in den komplexen Redaktionsprozess der Pentateuchentstehung eingespeist wurden. Das reicht so weit, dass eine Grundschrifthypothese repristiniert wird, in der die Priesterschrift den Ausgangspunkt der Traditionsbildung darstellt und alle nichtpriesterlichen Textteile erst nachpriesterlich in Fragmenten oder als Bearbeitung des priesterlichen Textes redaktionell eingefügt wurden. Voraussetzung dieser radikalen Verschiebungen ist immer noch die Grundunterscheidung von P und Nicht-P, die eine solche Hypothesenbildung erst möglich macht. Die Priesterschrift galt schon bei der Infragestellung des Vierquellenmodells als Fels in der Brandung und die Differenzierung von priesterlichem und nicht-priesterlichem Material gilt immer noch als mehr oder minder konsensfähiger Ausgangspunkt. Kein Wunder also, wenn die Priesterschrift sich zum Bezugspunkt der Mo­dellbildungen in der Pentateuchforschung entwickelt hat. Dabei ist die Größe »Priesterschrift« jedoch de facto überhaupt nicht mehr konsensual bestimmt. Umstritten sind vor allem Ende und Umfang des Erzählfadens, der als Priestergrundschrift adressiert wird, ihr Quellencharakter sowie die Redaktionsprozesse, die weiteres Material in einen Grundbestand eingebracht haben. Schaut man genauer hin, sind sogar die Kriterien, was einen priesterlichen Text ausmacht und von einem nichtpriesterlichen unterscheidet, in der Forschung zunehmend unscharf geworden.
Es ist daher folgerichtig, dass sich die Projektgruppe »Altes Testament« der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in ihrer Jahrestagung vom 17. bis 19. Mai 2012 unter dem Titel »Ab­schied von der Priesterschrift?« diesem Bereich der Pentateuchforschung gewidmet hat. Der Band versammelt sieben Beiträge von Christoph Levin, Erhard Blum, Jan-Christian Gertz, Christoph Berner, Thomas Römer, Eckart Otto, Christoph Nihan. Die ersten drei Beiträge legen einen Schwerpunkt auf Texte der Genesis, die beiden folgenden blicken auf die Exoduserzählung und die letzten beiden auf das Buch Levitikus. Die Autoren sind allesamt in der Pentateuchforschung namhafte Experten, die ebenso exponierte wie gegensätzliche Positionen vertreten und sich durch größere Arbeiten im Feld ausgewiesen haben. Nahezu alle Einzelbeiträge greifen auf diese größeren Arbeiten zurück, indem sie die Grundpositionen wiederholen oder modifizieren. Entsprechend bietet der Band wenig Überraschungen, zumal sein Titel mehr verspricht als er leis­tet. Eine Verabschiedung der Priesterschrift ist weder die Voraussetzung noch die Folge der Diskussion der Einzelbeiträge; keiner der sieben Autoren fordert oder vollzieht den Abschied von der Priesterschrift. Der Titel ist vielmehr angeregt durch den »Abschied vom Jahwisten«, einem Buchtitel aus dem Jahr 2002 (Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion, hrsg. von Jan Christian Gertz u. Konrad Schmid. Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 315. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002), der in der Pentateuchforschung viel Bewegung ausgelöst hat. Der vorliegende Band dokumentiert nur insofern einen »Abschied von der Priesterschrift«, als er deutlich macht, wie wenig Übereinstimmung faktisch in der Theoriebildung in Bezug auf Textbestand und Re­daktionsprozesse besteht.
Es sind drei Bereiche, die alle Beiträge verbinden: Die Frage der Lücken im Erzählablauf der sogenannten Priestergrundschrift und der Bezug auf nichtpriesterliche Texte einerseits und die konzeptionelle Geschlossenheit zumindest der Grundschicht andererseits: also das Problem Quelle oder Redaktion, aus dem nur der (auch kriteriologisch reflektierende) Beitrag von Blum durch die Annahme einer der priesterlichen Komposition vorgelagerten mehrstufigen Entstehung von Texten zu entfliehen sucht. Damit stellt sich die Frage, die ebenfalls viele der Beiträge tastend thematisieren, nämlich wie man sich die Entstehung des Pentateuch gerade in seiner formativen Phase aus einer literatursoziologischen Perspektive erklären soll. Thomas Römer hält treffend fest, dass der Pentateuch »vielleicht das beste Beispiel für das enge Zusammenarbeiten der wohl kleinen aus Priestern und anderen Mitgliedern der judäischen (und samaritanischen) Elite bestehenden intellektuellen Gruppen« (160) ist. Und Eckart Otto sieht gerade in den Schlussphasen der Entstehung des Pentateuch eine »midraschartige Zusammenführung von Texten« (175), die über die Figur des alles überragenden Mose als Autor und Ausleger des Pentateuch konstituiert wird und eine randscharfe Trennung von Fortschreibungen eigentlich ausschließe. Dieses Thema bedürfte unbedingt weiterer Vertiefung. Der dritte Bereich, der von vielen der Beiträge mehr oder minder explizit angesprochen ist, ist die Frage, was eigentlich ein priesterlicher Text ist. Diese Frage stellt sich nicht nur für die späten Fortschreibungen, in denen etwa »deuterono-mistische« und »priesterliche« Perspektiven zusammenfließen, sondern ebenso für die Texte, die zum narrativen Kern der Priesterschrift gerechnet werden sollen. Auch damit ist die Besonderheit von Traditionsliteratur angesprochen, für die die Fixierung auf einen Autor ebenso wenig nützlich ist wie die Orientierung an der Größe Werk. Sucht man weiter nach verbindenden Perspektiven jenseits des Dissenses, so zeigt sich am Beispiel der Priesterschrift vielleicht so etwas wie eine neue Bescheidenheit. Selbst für die Priesterschrift ist die Entstehung komplexer, als dass sie in Quelle und Redaktion oder Pg und Ps aufgehen würde. Die Pentateuchforschung sieht sich gezwungen, auf der Modellebene Abschied zu nehmen von einem einzigen monolithischen Modell, das alles erklärt. Das zeigen die Debatten über das Verhältnis von priesterlichem und nichtpriesterlichem Material, die sich in den Forschungen zur Priesterschrift spiegeln, sehr deutlich. Die Komplexität dieser Vorgänge ist in den jüngeren Jahren enorm angewachsen, so dass das vereinfachende kombinatorische Modell, das eine additive Fügung unterschiedlicher Urkunden annimmt, das Werden des Pentateuch nicht erklären kann. Auch hat sich die Annahme einer einzigen abschließenden Pentateuchredaktion offensichtlich nicht bewährt. Die Redaktionsprozesse verlaufen offenbar in den einzelnen Büchern des Pentateuch nicht zwingend gleichförmig. Buchbezogene Perspektiven stehen neben Tetra-, Penta- und Hexateuchperspektiven. Das stellt herausfordernde Fragen nach den verbindenden Traditionen und Redaktionen und der Verantwortlichkeit von literatursoziologischen Verortungen. Gerade die Priesterschrift bietet sich für die Perspektivierung dieser Fragen an. Dann aber wäre es sehr sinnvoll gewesen, die Grunddifferenz zwischen priesterlichen und nicht-priesterlichen Texten kriteriologisch noch einmal zu klären und sich nicht – wie der Band es nahezu durchgehend tut – auf die seit Theodor Nöldeke erarbeitete breit k onsensfähige Bestimmung priesterlicher Texte zu verlassen. Die unverbundenen Einzelbeiträge zeigen deutlich, dass sehr viel davon abhängt, wie die Größen »Autor«, »Redaktor«, »Werk« und »Textkohärenz« gefüllt werden. Die Komplexität der Entstehung des priesterlichen Materials, das bis in die Schlussphasen des Pentateuch hineinreicht, konnte der Band ebenfalls aufzeigen, auch wenn gerade für diese späten Phasen der Pentateuchentstehung noch kein auch nur annähernd konsensfähiges Modell in Sicht ist. Erkennbar war lediglich, dass die Annahmen von einer Unzahl von Redaktionen und Fortschreibungen in getrennten Schulen sowohl redaktionsgeschichtlich, literatursoziologisch als auch von der ma­terialen Seite der Textentstehung wenig Plausibilität beanspruchen können. Hier bietet sich die Idee von priesterlichen Tradi-tions- und Bearbeitungsclustern an, um die redaktionsgeschicht-liche Komplexität einerseits nicht unnötig durch die Annahme von hexateuchübergreifenden Schichten und Schulen zu reduzieren, andererseits aber der zum Teil buchbezogenen (Lev, Num), aber auch buchübergreifenden (Num/Jos, Ex/Num, Lev/Dtn) redaktionellen Verdichtung Rechnung zu tragen.
Der Band leistet einen wichtigen Beitrag zu den Grundlagen, vor deren Hintergrund diese Fragen in Zukunft zu diskutieren sind. Schade, dass die Beiträge so unverbunden nebeneinanderstehen und die Chance zum Dialog offenbar zumindest in der gedruckten Form der Beiträge kaum genutzt wurde. Denn bis auf wenige Ausnahmen stellen die Beiträge keine Bezüge untereinander her. Das verstärkt den Eindruck einer sehr diversen Forschungslandschaft, der bedauerlicherweise auch nicht durch einen systematisierenden Einleitungs- oder Schlussteil aus der Feder der Herausgeber abgewendet worden ist. Unter dem Strich ist der wichtige Band ein Beitrag »Zum Stand der Pentateuchdebatte«, aber kein »Abschied von der Priesterschrift«, wenn er auch deutlich macht, dass die Diversität der Hypothesen, die unter dieser Flagge segeln, nach wie vor sehr groß ist. Der Dissens lässt den forschungsgeschichtlich gewichtigen Tanker »Priesterschrift« schwanken, aber untergegangen ist er noch lange nicht.