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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1198–1199

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Lattki, Torsten

Titel/Untertitel:

Benzion Kellermann. Prophetisches Judentum und Vernunftreligion.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 460 S. m. 1 Abb. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 24. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-57040-1.

Rezensent:

Dirk Schuster

Das zu besprechende Werk über das Leben und Wirken des jüdischen Religionsphilosophen Benzion Kellermann (1869–1923) ist das überarbeitete Ergebnis der von Torsten Lattki im Sommersemester 2014 eingereichten Dissertation am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt unter Betreuung von Hermann Deuser und Thomas Meyer. Als Ziel dieser vorrangig biographisch angelegten Arbeit gibt L. an, den heutzutage in Vergessenheit geratenen Kellermann wieder in Erinnerung zu rufen und ihm jene Stellung in der deutsch-jüdischen sowie Philosophiegeschichte zurückzugeben, die der Schüler Hermann Cohens bis zu seinem frühen Tod im Juni 1923 besaß (11).
L. ist sich dabei der allgemeinen Problematik von biographischen Studien bewusst, die nicht selten das Leben eines mehr oder minder interessanten Individuums tiefgründig beleuchten, dabei aber die Kontextualisierung aus dem Blick verlieren, wodurch umfassendere Erkenntnisgewinne leider öfters ausbleiben. Diesen Fehler begeht L. dankenswerterweise nicht. Vielmehr kann L. am Beispiel Kellermanns immer wieder die Konflikte zwischen liberalem und orthodoxem Judentum, die Auseinandersetzungen jü-discher Gelehrter mit einer christlich dominierten Wissenschaftslandschaft und dem omnipräsenten Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich sowie den Anfangsjahren der Weimarer Republik nachzeichnen.
Chronologisch angelegt und gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial, welches L. in diversen Archiven in Israel, den USA und Deutschland zutage gefördert hat, erfährt der Leser zunächst, wie der junge, orthodox geprägte Kellermann sich vor allem durch den Einfluss seines Marburger Philosophieprofessors Cohen in einem längeren Prozess dem liberalen Judentum zugewendet hat. Das Studium an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums unterbrach Kellermann 1900, um der Berufung als Rabbiner der westpreußischen Kleinstadt Konitz nachzukommen. Noch im selben Jahr sah sich die jüdische Gemeinde dem Vorwurf des Ritualmordes gegenübergestellt, der in pogromartigen Unruhen seinen Höhepunkt fand. Das Kapitel zum »Fall Konitz« sei an dieser Stelle besonders positiv hervorgehoben: Nicht nur ergänzt L. die bisherigen Forschungen über den Ritualmordvorwurf in Ko­nitz gewinnbringend mithilfe zeitgenössischer Dokumente, sondern er erklärt einleuchtend an diesem Beispiel die Entstehung und Wirkungsmacht derartiger noch zu Beginn des 20. Jh.s vorgebrachter Anschuldigungen, die für Kellermann mit der selbstgewählten Rückkehr ins sicherere Berlin endeten.
Zurück in der deutschen Hauptstadt arbeitete Kellermann zur Sicherung des Lebensunterhaltes hauptberuflich als Lehrer. In seinen in dieser Zeit entstandenen wissenschaftlichen Studien rückte – neben philosophischen Überlegungen zum liberalen Judentum – der religionshistorische Vergleich von Christentum und Judentum in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Dabei ging es Kellermann – exemplarisch für die Wissenschaft des Judentums zu jener Zeit – um eine gleichwertige Anerkennung der eigenen Forschungen gegenüber der protestantischen Theologie, indem er sich beispielsweise in die Debatte über Harnacks »Wesen des Christentums« einbrachte und die rein christliche Lesart der alttestamentlichen Prophetengedanken durch deutsche Theologen kritisierte.
Hier gelingt es L., nicht nur Kellermanns Position klar herauszuarbeiten, sondern einerseits aufzuzeigen, durch wen Kellermann inspiriert wurde. Dadurch bekommt der Leser einen tiefen Einblick in die teils ideologischen Auseinandersetzungen zu Beginn des 20. Jh.s zwischen protestantischen Theologen und jüdischen Gelehrten über die vermeintlich ›richtige‹ Lesart kanonischer Texte. An-dererseits geht L. nicht nur auf die Standpunkte von Kellermann innerhalb dieser Kontroversen sein, sondern ebenso auf die Reaktionen auf dessen Positionen, wodurch deutlich hervortritt, dass Kellermann mit seinen Ansichten zu Lebzeiten vielfach Aufmerksamkeit innerhalb der Gelehrtenwelt auf sich zog. Dieser Befund lässt sich nicht nur an den Auseinandersetzungen mit Harnacks Ansichten festmachen, sondern gleichfalls an der von Troeltsch begonnenen Debatte über die Transformation des prophetischen Ethos durch das Christentum, die L. auf knapp 30 Seiten ausführlich darlegt. Ebenso erhielt Kellermann durch seine Beschäftigung mit der Philosophie Kants und seines Lehrers Cohen vor dem Hintergrund der Ausarbeitung einer Vernunftreligion Beachtung innerhalb der wissenschaftlichen Gelehrtenwelt. Einzig die Interpretation L.s, dass in der zeitgenössischen Wahrnehmung Kellermanns als »Epigone Cohens«, in seiner »komplexe[n] Ausdrucksweise« (399) sowie in der »Abkehr von dem Marburger Neukantia nismus seit dem Ersten Weltkrieg« (401) Erklärungen für das Vergessen dieses Mannes liegen, lässt sicherlich noch weitere Deutungsansätze zu. Dies kann indes auch als eine Forderung zu weiteren Arbeiten über heutzutage vergessene Große der Wissenschaftsgeschichte gelesen werden und soll den allgemein positiven Gesamteindruck dieses Buches in keiner Weise beeinträchtigen.
Es ist diese Einbettung von Kellermanns Ansichten und Ideen in die bisweilen polemischen Kontroversen zwischen jüdischen und christlichen Wissenschaftlern sowie von dessen Lebensweg innerhalb einer stark in Veränderung begriffenen deutschen Gesellschaft während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, die dieses Buch mehr sein lässt als eine bloße, von stilistischer Präzision geprägte Biographie.