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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1195–1197

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Halbertal, Moshe

Titel/Untertitel:

Maimonides. Life and Thought. Transl. from the Hebrew by J. Linsider.

Verlag:

Oxford u. a.: Princeton University Press 2014. XI, 385 S. Lw. US$ 45,00. ISBN 978-0-691-15851-8.

Rezensent:

Görge K. Hasselhoff

Im Jahr 2004 wurde in vielerlei Weise des 800. Todestages des Rabbiners, Arztes und Philosophen Moshe ben Maimon, bzw. latinisiert Moses Maimonides, gedacht. Zahlreiche Monographien und Sammelbände erschienen anlässlich dieses Ereignisses bzw. dokumentierten Veranstaltungen an verschiedensten Orten der Welt. Einige wenige dieser Arbeiten flossen in die hebräische Originalfassung des Buches von Moshe Halbertal (Jerusalem 2009) ein, wobei sein Grundgerüst wohl sehr viel älter ist, wie ein Blick in die Literaturverzeichnisse zu den einzelnen Kapiteln zeigt. Dass das keineswegs zum Schaden der entwickelten Darstellung sein muss, zeigt die nonkonformistische Struktur des Buches, das keine explizite Auseinandersetzung mit Fachliteratur ist, sondern eine Darstellung aus den maimonidischen Quellen.
Obgleich der Titel eine Biographie evoziert, handelt lediglich das erste Kapitel von Stationen im Leben des vielleicht wichtigsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Die übrigen sieben Kapitel sowie die Zusammenfassung fokussieren auf dessen halakhische und philosophische Werke – auch hier in gänzlich anderer Gewichtung als die meisten anderen Einführungen in das maimonidische Werk. Im Zentrum steht dabei die Religionsphilosophie, von H. als »Philosophy of halakhah« bezeichnet. Das erste, mit über 85 Seiten vergleichsweise sehr umfangreiche Kapitel weist in der Nachzeichnung der wichtigsten biographischen Stationen wenig Überraschendes auf, sieht man einmal ab von der unbelegten Behauptung, die Familie des Maimonides sei 1148 von Córdoba nach Sevilla geflohen (18), und der Legende, Maimonides’ Schriften seien 1232 durch die christliche Inquisition verbrannt worden (67), wofür es in Inquisitionsprotokollen der Zeit keinen Anhalt gibt, sondern lediglich die Polemik in einer Schrift von Hillel von Verona 50 Jahre nach dem angeblichen Ereignis. Unhistorisch erscheint auch die Behauptung, dass europäische Juden niemals in lateinischer Sprache geschrieben hätten (so 49) – Abraham ibn Ezra wäre hier ein Gegenbeispiel. Für H. steht – anders als beispielsweise für Herbert Davidson – die maimonidische Verfasserschaft des Traktats zur Logik außer Frage (vgl. 22). Während Maimonides’ medizinisches Wirken – immerhin hinterließ er rund zehn medizinische Abhandlungen – in dem biographischen Überblick zwar anklingt (vgl. 61–64.71–73), spielt es in der weiteren Darstellung seines Denkens erstaunlicherweise keine Rolle mehr: »The practice of medicine also put an end to Maimonides’ powers of creativity« (71) – eine gewagte Behauptung.
Der wohl eigentliche Schwerpunkt der Darstellung beginnt im zweiten Kapitel. Hier werden die frühen halakhischen Schriften, der arabisch abgefasste Kommentar zur Mishna und das Buch der Gebote eingeführt und ein erster Begriff der Philosophie der Hala-kha entwickelt. Der Kommentar zur Mishna war der erste Versuch, eine eigenständige Interpretation des Religionsgesetzes zu etablieren, die an die Stelle der Gemara des Talmuds und die Autorität der Geonim der Akademie in Babylon treten sollte. Hierin eingeschlossen findet sich »a principled and systematic philosophy of hala-khah« (99), indem die halakhischen Autoritäten neu gewichtet werden und die dialogische Struktur zugunsten einer autoritativen Meinung aufgegeben wird; nicht mehr das Einzelgebot, sondern die Gesamtheit des so interpretierten Religionsgesetzes, und damit der Offenbarung Gottes selbst, tritt in den Mittelpunkt. Maimonides selbst scheint seinen Standpunkt insofern überdacht zu haben, als er noch vor Abschluss des Mishnakommentars eine neue Auf-listung der 613 mosaischen Gebote, geordnet in Ge- und Verbote, vornahm. Diese Übersicht fand ihren Niederschlag im Sefer ha-mitzvot, der zugleich eine Vorarbeit für die neue Kommentierung in Mishne Tora war.
Im dritten Kapitel wendet sich H. den Themen Ethik und Glauben in dem Mishnakommentar zu. Hier sind insbesondere die 13 »Glaubensartikel« zu nennen, in denen Maimonides die Hauptprinzipien jüdischen »Glaubens« zusammenfasst. Dass Maimonides dabei zwar die Auferstehung der Toten nennt, aber kaum in­haltlich füllt, hat schon zu seinen Lebzeiten zu Kontroversen geführt. Wichtiger erscheint ihm die menschliche Vollendung im Tun der Gebote zu Lebzeiten als eine Spekulation über ein Leben nach dem Tod.
Die folgenden drei Kapitel widmet H. verschiedenen Aspekten des zweiten bzw. eigentlich dritten halakhischen Werkes des Maimonides, der erneuten, nun hebräisch abgefassten Kommentierung der Mishna in den 14 Büchern der Mishne Tora, die einer eigenen Kategorisierung der Einzelgebote in 14 Ordnungen (die Mishna hatte sechs Ordnungen) folgt und jedes der 613 Gebote auslegt. Im vierten Kapitel fragt H. danach, was die Mishne Tora sei. Wenn die Mishna eine Reaktion auf die erste große Krise des Judentums nach dem Verlust des Tempels und der Staatlichkeit war, so stellte Maimonides’ Kompilation die Reaktion auf die zweite große Krise, die Herrschaft des Islam nach Abschluss des Talmud, dar: »Just as the Mishnah of Rabbi Judah the Prince was a dramatic literary reaction to halakhah’s first geopolitical crisis, Mishneh Torah was a literary and halakhic reaction to the second, even more intense, crisis.« (171) Für Maimonides stand dabei die Autorität des Talmud außer Frage, allerdings sollte dieser gegenüber den gaonischen (Fehl-)Interpretationen geschützt werden, insofern sollte seine Halakha an deren Stelle treten (vgl. 85 u. ö.). Dennoch lasse sich die Titelfrage dieses Kapitels nicht endgültig beantworten. Im fünften Kapitel wendet sich H. deswegen dem Themenfeld Philosophie und Halakha zu. Hierbei ist zu betonen, dass bereits das erste von Maimonides dargestellte Gebot, das Sein Gottes an sich, die Welt der Wissenschaft und der Philosophie eröffnet; anders ausgedrückt: Halakha ist Philosophie und Philosophie höchste religiöse Pflicht. Insofern runde sich das Bild, wenn es in der letzten Auslegung zur messianischen Zeit heiße, dass es hier zur vollendeten Gotteserkenntnis komme. Insofern sind auch Fragen wie die nach der Ewigkeit der Welt oder nach dem Wesen der Prophetie Fragen der Philosophie der Halakha, die deswegen an den entsprechenden Stellen des halakhischen Werks besprochen werden. In Kapitel 6 weitet H. den Blick wieder auf das konzeptuelle Verständnis von Halakha. Dafür werden zu­nächst die einzelnen Ordnungen des Werks dargestellt, um an­schließend insbesondere die Auslegungen im Blick auf die ethische Haltung des Einzelnen und das Verhältnis zu Nichtjuden (»Noachidische Gebote«) darzustellen. Den Abschluss des Kapitels stellt eine recht umfangreiche Darstellung der Quellen und des Umgangs mit aggadischen Texten in Mishne Tora dar.
Die letzten beiden Kapitel sind dem enzyklopädisch-philosophischen Werk »Führer der Unschlüssigen« gewidmet, für das H. einen vierfachen Zugang vorschlägt: einen skeptischen, einen mystischen (»mystical«), einen konservativen und einen philosophischen (vgl. 279). In der von Leo Strauss aufgeworfenen Frage nach dem esoterischen Charakter des Führers positioniert sich H. dahingehend, dass er das Esoterische darin sieht, dass es eine Weise sei, Philosophie in die Tradition einzuführen: »That view, however, must be supplemented by the idea of esotericism as a means for integrating philosophy into the heart of the tradition.« (288) Die von H. vorgeschlagene skeptische Lesart zielt dabei auf das, was in der Bibelexegese der Literalsinn wäre und dort an eine Grenze stößt, wo die Identifikation von Bezeichnendem und Bezeichnetem zu »fateful errors« führen kann (296). Die mystische Lesart ist an der Stelle erreicht, wo die Grenze von der skeptischen Lesart hin zum Schweigen (nach Ps 65,2) erreicht ist (vgl. 302). Mit dieser doppelten Lesart – sceptical and mystical – ist zugleich das über die bisherigen Werke des Maimonides Herausragende erreicht (vgl. 304). Beziehen sich diese beiden Lesarten in erster Linie auf das erste und das dritte der drei Bücher des »Führers«, so beziehen sich die anderen beiden vorgeschlagenen Lesarten in erster Linie auf das zweite Buch, in dem eine Kosmologie und eine Prophetielehre entwickelt werden. Konservativ wäre dabei in erster Linie das Festhalten an einer Schöpfung und an einer Begrenztheit des Wissens, philosophisch das Verständnis von Prophetie und Fragen wie die nach dem Bösen und nach dem Zweck des Seins.
In der »Conclusion« versucht H. die schon zuvor miteinander verschränkten Lesarten der einzelnen Werke noch einmal neu zu systematisieren. Das Buch wird beschlossen mit einem Literaturverzeichnis, das einerseits eine Übersicht über Texte von Maimonides und andererseits Hinweise auf Literatur zu den einzelnen Kapiteln bietet (hier haben sich ungewöhnlich viele Fehler eingeschlichen), sowie einem Namen- und Sachindex.
Die vorgelegte Darstellung und Interpretation der Philosophie des Maimonides verdient Beachtung, selbst wenn man die Grundannahme, die gesamte Philosophie des Maimonides sei ausschließlich eine »Philosophie der Halakha«, nicht teilt.