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Ausgabe:

November/2016

Spalte:

1185–1187

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Josua, Hanna Nouri

Titel/Untertitel:

Ibrahim, der Gottesfreund. Idee und Problem einer Abrahamischen Ökumene.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 694 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 69. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-150145-6.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Anzuzeigen ist ein nicht nur umfangreiches, sondern großes und wichtiges Buch: In seiner 2005 an der Evangelisch-Theologischen Faculteit Leuven vorgelegten Dissertation, die Hanna Nouri Josua, Pfarrer der arabischen evangelischen Gemeinde in Stuttgart, der akademischen Öffentlichkeit vorstellt, wird gezeigt und im Hinblick auf die Konsequenzen für den christlich-islamischen Dialog reflektiert, wie die Gestalt Abrahams als vor-jüdische und vor-christliche Glaubensfigur im Koran zum zentralen Bezugspunkt wird und wie die theologische Legitimation, die sich durch diesen Bezug auf Abraham ergibt, mit einer zunehmenden Distanzierung von Judentum und Christentum einhergeht.
Nach einem einführenden ersten Teil mit Ausführungen und einer theologiegeschichtlichen Verortung der Idee einer »Abrahamischen Ökumene« (u. a. zu dem römisch-katholischen Theologen L. Massignon und zum 2. Vatikanischen Konzil, aber auch zu zeitgenössischen protestantischen Ansätzen, etwa bei Friedmann Eißler) folgen im zweiten Teil Darlegungen zur Methode, zu den Quellen J.s und zu seinem hermeneutischen Ansatz, der grosso modo an die Berliner Islamwissenschaftlerin A. Neuwirth anschließt.
»Rezipientenorientierte Interdependenz« heißt für J., die Verstehensvoraussetzungen der Ersthörer der koranischen Verkündigung in Rechnung zu stellen, die sich aus der Präsenz jüdischer und christlicher Gruppen auf der arabischen Halbinsel im 7. nachchristlichen Jh. ergeben. So entsteht ein dynamisches Bild der Koran-Genese, das auf der traditionellen Suren-Chronologie nach Th. Nöldeke fußt (hilfreiche Schaubilder, 116–119 und 146–149), diesen klassischen Ansatz der Koranwissenschaft aber methodisch verfeinert (132). Zudem kommt die nachkoranische Entwicklung in den Blick, die J. geistesgeschichtlich nachzeichnet. Ein besonderes Verdienst J.s ist es, erstmalig ausführliche Übersetzungen zur Abrahamthematik in der Hadith-Literatur, den arabischen Korankommentaren sowie den traditionellen Prophetenerzählungen (qi s.as.) vorzulegen – mit dem Ziel, das Abrahambild der islamischen Tradition zu zeigen, das nicht nur auf der Heiligen Schrift der Muslime gründet, sondern auch von der nachkoranischen Tradition geprägt ist.
Im dritten Teil, dem eigentlichen Hauptteil, wird zunächst gezeigt, dass als Quelle für das klassisch-islamische Bild vom Erzvater auch Überlieferungen der Vita Mohammeds eine Rolle spielen. Die Sunna hat beide Prophetengestalten sukzessive einander angeglichen: Ibrahim war Vorläufer und Bruder Mohammeds, der seinem Vorbild bis hin zu körperlichen Merkmalen ähnlich war.
Nach einem Hadith hatte Mohammed gar »seinen Schnurrbart gestutzt, so wie Ibrāhīm, der Freund Gottes es gemacht hat« (201). Nach J. kommt die Identifizierung Mohammeds mit Abraham auch dadurch zum Ausdruck, dass er seinem (früh verstorbenen) Sohn, den ihm seine koptische Frau Maryam gebar, den Namen Ibrāhīm gab: »Die Namensgebung dieses Sohnes ruft nicht nur die [sc. biblischen; M. M.] Sohnesverheißungen ins Gedächtnis. In ihm […] soll auch eine Umkehrung stattfinden: MuÎammed, der Ibrāhīm seinen Vater nennt, will im Sohn der Koptin nun Vater Ibrāhīms werden.« (160) Doch wie ist die »Ibrahimisierung« Mohammeds theologisch zu verstehen? Nach J. bieten die koranischen wie nachkoranischen Prophetenlegenden nicht historia, sondern exempla, die jeweils »paradigmatische Illustration der immer gleichen, ewigen Kunde.« Es geht um den »Ruf zum Glauben an den einen Gott« (220). Zugleich entsteht hinsichtlich Mohammeds ein Prophetenbild, das ihn nicht mehr »als primus inter pares« zeigt. Die in der Tradition immer wiederkehrende Formel Allāh wa-rasūluhū (»Gott und sein Gesandter«) weist Mohammed nicht nur als letzten und damit abschließenden Propheten aus, sondern bringt ihn und »sein Reden und Handeln immer mehr mit dem Reden und Handeln Gottes« zusammen (215), ein Befund, der »ein Problem für die islamische Theologie« darstellt (216).
In den folgenden Kapiteln des dritten Teils werden die relevanten Abrahampassagen des Korans vorgestellt und ausführlich exegesiert. Dabei gliedert J. in die zeitlich früheren Ibrahimerzählungen in der Konfrontation mit dem altarabischen Polytheismus, die späteren Texte, die im Kontext der Begegnungen mit Juden entstanden (d. h. mit den jüdischen Stämmen, die Mohammed in seiner Zufluchtsstadt Medina kennenlernte), und schließlich die Ibrahimverse, die vor dem Hintergrund des Austauschs mit Christen zu verstehen sind, wobei vor allem das Aksum-Königreich und die Abessinier in Nordostafrika eine Rolle spielen.
Neben weiteren hilfreichen Schaubildern (zur religiösen Situa-tion auf der arabischen Halbinsel und zum Prozess der Christianisierung unterschiedlicher arabischer Stämme, 476–479) sind hier etymo­logisch-theologiegeschichtliche Exkurse zu nennen, etwa zum Be­griff des vorislamischen Gottsuchers (Îanifen), zur »millat Ibra-hı-m« (zur »Religion« oder zum »Glauben« Abrahams nach koranischer Vorstellung) und zur Benennung der Christen im Koran und in der islamischen Tradition (nas.āra). Es ist kennzeichnend für J., dass es hier nicht bei gelehrten orientalistischen Ausführungen bleibt; vielmehr lässt er sein biblisch-theologisches Wissen einfließen, das ihn zu hermeneutischen Überlegungen führt, die ihn als als hochreflektierten und dialogorientierten christlichen Theologen zu erkennen geben. Zur Sprache kommt u. a. das für den christlich-islamischen Dialog hochrelevante Problem, ob die islamische Tradition dazu berechtigt, Christen als »Polytheisten« zu kennzeichnen. (Er­nüchternde Belege von islamischen Lehraussagen, die anthropomorphistische und inkarnatorische Theologoumena auch heute noch grundsätzlich mit dem Vorwurf des širk – des Götzendienstes– belegen, finden sich auf S. 551.) Zudem geht es um die Frage der Selbstbenennung arabischer Christen, die sich die genannte koranische Christentumsbezeichnung nur teilweise zu eigen machen. Dass Namen in diesem Kontext alles andere als Schall und Rauch sind, und welche Assoziationen J. vor dem Hintergrund seiner nahöstlichen Herkunft kommen, zeigt eine Anmerkung (489), die davon handelt, dass die salafistische »Islamische Armee« im Juli 2014 im irakischen Mossul die Häuser von Christen mit dem arabischen Buchstaben Nūn (für nas.āra) kennzeichnete, »als Vorlauf für spätere ğizya-Forderung, Vertreibung oder Tötung«. Diese und andere, teils auch autobiographisch geprägte Anmerkungen bringen J. freilich nicht davon ab, für die Fortsetzung und sogar Vertiefung des christlich-islamischen Dialoges »auf Augenhöhe« einzutreten, wozu freilich eine grundsätzliche Distanzierung vom muslimischerseits erhobenen širk-Vorwurf gehören müsse (551).
Der vierte und letzte Teil des Buches befragt das erhobene Abrahambild der islamischen Tradition im Hinblick auf seine Dialogtauglichkeit und zeigt, dass viele der im Dialog beschworenen Abrahamtopoi (sein »Glaube«, seine »Gastfreundschaft«, abrahamische »Spiritualität«) entweder wenig Anhalt an den klassischen Abrahamtexten im Islam (aber auch im Christentum und Judentum) haben oder nur bedingt dialoggeeignet sind, weil unterschiedliche Dialogteilnehmer Unterschiedliches oder auch Gegensätzliches darunter verstehen. Insbesondere die Metapher vom Erzvater als Familienvater erscheint als problematisch (608), weil sie zu der Kontroverse führt, wer denn die legitimen »Kinder Abrahams seien«. Als besonders befremdend nennt J. den koranischen Sachverhalt, dass Ibrahim die Fürbitte bei Gott für die Ungläubigen, ja selbst für den eigenen götzendienerischen Vater, verboten wurde (Sure 11,76). J. endet mit einem Plädoyer für das Wahrnehmen und die Anerkennung von »Differenzerfahrungen« als Voraussetzung für einen gelingenden Dialog und die Strategie von »versöhnter«, weil »erstrittener« Toleranz (629). Ein ausführliches (leider nicht immer vollständiges) Stellenregister (Koran, Bibel, rabbinische Literatur) sowie ein Namen- und Sachindex runden das hervorragend lektorierte Buch ab, das sich im Übrigen durch eine nicht nur präzise, sondern auch ästhetisch anspruchsvolle deutsche Wissenschaftsprosa auszeichnet.